Der viktorianische Schrecken – Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914 - 2. Das Geheimnis des Erfolgs: Maga und die Frauen
Der viktorianische Schrecken
Horror & Dark Fantasy in England 1834-1914
2. Das Geheimnis des Erfolgs: Maga und die Frauen
2. Das Geheimnis des Erfolgs: Maga und die Frauen
Wieso war eigentlich grade das viktorianische England so reich an Phantastik? Warum konnte dort so eine Literatur entstehen? Gabs da besonders günstige Bedingungen?
Und was ist überhaupt das Viktorianische Zeitalter? Letztere Frage scheint zunächst sehr einfach zu beantworten zu sein. Jeder Historiker wird Ihnen sagen: das ist die Zeitspanne, in der Queen Viktoria regiert hat. Die hat nicht so lange durchgehalten wie Elisabeth II, aber auch ganz schön lange, sie regierte von 1837 bis 1901.
Damit ist auch die Frage beantwortet, ob „Frankenstein“ zur Viktorianischen Literatur gehört – nein, der berühmte Roman von Mary Shelley entstand wesentlich früher (1818) und zählt zur Gothic-Literatur.
Aber was ist mit klassischen Autoren wie E.F. Benson, dessen erster Horror-Erzählband „The Room in the Tower“ 1912 erschien? Ist das noch viktorianische Horror-Literatur?
Strenggenommen nicht, aber in der Kultur- und Literaturwissenschaft wird über diese Einteilung oft gemurrt und gestritten, weil es keinen klaren Bruch gibt zwischen 1901 und der Zeit danach, also auch keinen echten Grund für eine künstliche Zäsur. Deswegen verlängern viele gern die Ära noch bis zum Ersten Weltkrieg.
Umgekehrt gibt’s auch Kulturhistoriker, denen das alles insgesamt viel zu ungenau ist. Schließlich reden wir hier, so ihr Argument, über eine Spanne von fast 80 Jahren, in der sich die Welt radikal verändert. Eine Geschichte von 1840 hat stilistisch und inhaltlich kaum noch etwas gemein mit einer aus der Ära des fin de siecle von 1890. Deshalb plädieren sie dafür, diesen gewaltigen Zeitraum zu unterteilen: mittelviktorianisch , spätviktorianisch, postviktorianisch oder auch edwardianisch (nach dem Nachfolger Victorias, Edward VII) usw. Das will ich jetzt nicht vertiefen, in der Spannungsliteratur jedenfalls und ganz besonders in der Horrorliteratur reicht die markante Periode mit genreprägenden Zügen von etwa 1860 bis 1910. Und von dieser Epoche spricht man meist, wenn es um die klassische viktorianische Ära der Schauerliteratur geht.
Was war an dieser Ära so besonders?
Klar, manches haben wir alle in der Schule gelernt. Industrielle Revolution, Eisenbahnboom, erste Automatisierung, Arbeitslosigkeit wegen Rationalisierung, Telegraphie, frühe Fotographie (die damals noch Daguerrotypie hieß, nach dem Erfinder Louis Daguerre), Dampfschiffe, ab den 1880ern dann die große Kulturrevolution des Fahrrads, Massenpresse - all das passiert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Doch schon viel früher, um 1815, beginnt in England die Etablierung moderner Magazin-Kultur. Der Begriff Magazin selbst, der im späten 18. Jahrhundert geprägt wurde, deutet die Funktion schon gut an – eine Art Fundus, in dem alles Mögliche gestapelt ist, gleichermaßen gedacht als sofortige bunte Lektüre als auch als Aufbewahrungsort für zukünftige Leser. Lange bevor sich in anderen Ländern Unterhaltungsblätter dieser Art durchsetzten, waren sie in England schon da – freilich nur für eine gebildete Mittelschicht. Das langlebigste dieser Magazine war das ultrakonservative „Blackwood's Magazine“, und es spielt paradoxerweise eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der subversiven Horror-Literatur, gerade weil es so ehrwürdig daherkam. Blackwood's Magazin kannte im viktorianischen England eigentlich jeder, der lesen konnte, so wie bei uns jeder den Spiegel kennt – es wurde spöttisch-liebevoll „Maga“ genannt. Maga gab es seit 1817 und war ein obstruses Gemisch aus schwachsinnigen Angriffen gegen alles, was fortschrittlich war (es stellte sich bezeichnenderweise im amerikanischen Bürgerkrieg auf die Seite der Sklavenhändler), weitschweifigen Reise-Reportagen aus aller Welt und Horror- und Abenteuer-Geschichten. Keiner verstand so recht, wieso ein Magazin, das in politischer Hinsicht recht engstirnig war, leidenschaftlich gern Horror- und Abenteuer-Garn veröffentlichte. Es galt bereits 1830 in Stil, Ansichten und Aufmachung als hoffnungslos veraltet, erwies sich aber in Fragen der unheimlichen Literatur noch gegen Ende der Ära als erstaunlich instinktsicher. Conrads „Herz der Finsternis“ etwa erschien dort 1899, später, 1915, sogar noch Buchans 39 Stufen, ein Bestseller, den Hichcock verfilmte. Viele der Geschichten waren so krude und brutal, daß selbst Edgar Allan Poe sich 1839 darüber beklagte. Und das will schließlich was heißen. Unnötig zu sagen, daß viele viktorianische Autoren Fans der Blackwood-Geschichten waren und sie verschlangen, der jungen Dickens etwa, oder die Bronté-Schwestern. Maragaret Oliphant, eine der berühmtesten Verfasserinnen von viktorianischen Grusel-Geschichten, wurde sogar eine lebenslange Beiträgerin. Natürlich erschien auch andre Fiction in dem Magazin – auch da erwies sich das ansonsten so krude Blatt als erstaunlich tolerant und weitherzig, wichtige Romane von George Eliot und Edward Bulwer Lytton kamen hier in Fortsetzung heraus. Oder man berichtete – wie auf der abgebildeten Ausgabe zu sehen – über Stars der Spannungs-Literatur-Szene wie Alexandre Dumas.
Ob nun die Grusel-Stories in „Maga“ heute immer noch in jedem Einzelfall überzeugen, ist zweifelhaft, aber auch nebensächlich. Fest steht – schon seit den 1810er Jahren erschien in diesem der ansonsten strunzkonservativen, öde aufgemachten und zum Teil drumherum gähnend langweilig geschriebenen Blatt der gesetztesten Art haarsträubende Horror-Stories. Der Effekt auf die Gesellschaft war enorm. Es war, als ob die FAZ im Mittelteil stets ein aufklappbares Playgirl herausbringen würde. Horror & Grusel wurde in England eine akzeptable Literaturgattung.
Ein weiterer Grund für das Florieren der Schauerliteratur war die Dominanz der Frauen in der gedruckten Welt. Wie wir heute wissen, wurde weit mehr als die Hälfte aller fiktionalen Literatur der viktorianischen Ära – also nicht nur Schauerliteratur - von Frauen geschrieben. Vermutlich ist die Dunkelziffer sogar noch größer, weil viele heute unbekannte Autorinnen anonym blieben oder unter männlichen Pseudonymen veröffentlichten (daß wirs von George Eliot wissen, liegt ja auch nur daran, daß sie so populär wurde…)
Frauen beherrschten in der entscheidenden, prägenden Zeit der Spannungsliteratur auch einen wichtigen Teil der Literaturkritik und hatten die Leitung wichtiger einschlägiger Magazine inne. (1860-90).
Wie war es möglich, daß Frauen in England eine solche dominierende Macht im literarischen Sektor erlangten, wie sie in Deutschland nie möglich gewesen wäre?
Im angelsächsischen Raum galt der Beruf der Schriftstellerin nicht als ehrenrührig, er war seit dem 18. Jahrhundert ähnlich akzeptiert wie der einer Gouvernante. Ehemänner ermutigten Frauen (wie im Fall der ersten berühmten Horror-Bestseller-Autorin Ann Radcliffe), die lange Zeit ihrer beruflichen Abwesenheit zu nutzen, um zu schreiben. Doch um 1860 kam ein neues Element hinzu. Einige Bestsellerautorinnen waren so unermesslich reich geworden, dass sie es nicht mehr nötig hatten, ihre Texte wie sauer Bier diversen Zeitschriften anzubieten. Sie gründeten eigene Magazine (oft, um juristische Hürden zu überspringen, durch Strohmänner), um ihre Romane und Geschichten ohne Zensur oder nerviges Theater drucken zu können.
Zwei Zeitschriften mit Besitzerinnen muss man unbedingt zu nennen, weil beide auch eine Schatzkammer für gute Horrorliterarur waren:
Erstens die „Belgravia“. Besitzerin war die Thriller- und Horrorautorin Mary Braddon. Und ihre Konkurrentin Ellen Wood war Herausgeberin von Nr.2: „Argosy“ (Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen späteren US-Pulp-Magazin, das sich - wohl in Verneigung vor dem viktorianischen Vorbild - ebenso nannte).
Beide Schriftstellerinnen waren durch Sensationsliteratur reich geworden und veröffentlichten nicht nur selbst weiter unermüdlich solche Werke in ihren Zeitschriften, sondern ermutigten andere Autorinnen, es ihnen gleichzutun. Und natürlich galt das auch für talentierte Männer, denen diese Zeitschriften ebenfalls offenstanden.
Besonders hervorzuheben ist eine einzigartige Serie in the Argosy von Ellen Wood, die sie dort jahrzehntelang pflegte und mit der sie sich als erste echte Serien-Aurtorin in die Geschichte einschrieb. Die Johnny-Ludlow-Serie war eine Pionierleistung, so etwas hatte es vorher noch nicht gegeben . Über 90 Geschichten erschienen ab 1869 zwanzig Jahre lang in Argosy, Geschichten, die alle im selben Johnny-Ludlow-Universum spielen. Jener Johnny, der Ich-Erzähler, ist ein Junge, der immer wieder in dunkle Verbrechen verwickelt wird, aber auch Zeuge unheimlicher Geistererscheinungen wird – die Stories haben eine enorme Varianz, manche von ihnen sind erstaunlich furchteinflößend. M.R. James etwa, ein Pionier des Horrors, liebte und lobte sie.
Überhaupt waren es zunächst die Frauen, die ein erstaunliches Gespür für das Schaurige entwickelten, bevor talentierte Männer in ihre Fußstapfen traten.
Warum hatten sie diese Gabe?
Alastair Gunn, der Herausgeber der Wimbourne-Gespenstergeschichten-Edition, vermutet, dass Frauen näher an Tabuthemen wie (Kinder)sterblichkeit, Einsamkeit, Vernachlässigung, Depression dran waren – Themen, die von der männlichen Autorschaft in deren Werken zunächst unterdrückt wurden. Glücklicherweise hatten die Damen damals aber eine laute Stimme in der Literatur und ausreichend Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen – und sie prägten so mit ihren Phantasien und Alpträumen eine ganze Ära.