Tidhar, Lavie: The Bookman

Lavie Tidhar - The BookmanThe Bookman
Von Lavie Tidhar
412 Seiten, ca. 7,00 €
ISBN: 978-0-85766-034-3
Erschienen: 2010 (USA)
Angry Robot Steampunk


(Buch in englischer Sprache)

Jeder Fan phantastischer Romane hat eine Vorliebe für bestimmte Spielarten der Fantasy, während er andere Subgenres weniger gerne liest. Ich zum Beispiel liebe charakterorientierte High Fantasy, während ich mit Urban Fantasy und Steampunk im Allgemeinen weniger anfangen kann. Umso überraschter war ich, dass mich ausgerechnet ein Roman aus letztgenannter Gattung in einem Maße gefesselt hat, wie ich es bislang nur sehr, sehr selten erlebt habe. Der Titel dieses Romans: »The Bookman«, das Debüt des in Israel geborenen Autors Lavie Tidhar.


Die Geschichte von »The Bookman« beginnt, wie es in Steampunk-Romanen so häufig der Fall ist, im viktorianischen England. Einem England, das dem uns bekannten in mancher Hinsicht gleicht, sich aber in vielen Punkten von diesem unterscheidet. Dass Königin Victoria kein Mensch ist, sondern einer Echsen-Rasse entstammt, ist dabei nur die berühmte Spitze des Eisbergs.

Im Zentrum des Romans steht der junge Poet Orphan, dessen große Liebe ein ungewolltes Opfer eines Terroranschlages wird, der auf das Konto des finsteren „Bookmans“ geht. Getrieben von Verzweiflung und dem Wunsch nach Rache, begibt sich Orphan auf die Jagd nach dem geheimnisvollen Unbekannten, dessen Gräueltaten seit Jahren Angst und Schrecken verbreiten. Sein Weg führt ihn dabei auf verschlungenen Pfaden von der Unterwelt Londons bis hin auf eine mysteriöse Insel, deren Standort stets zu wechseln scheint und die so manch dunkles Geheimnis birgt …

Lavie Tidhar ist mit »The Bookman« etwas gelungen, dass nur sehr wenigen Menschen gelingt: ein wahrhaft sensationelles Romandebüt vorzulegen. Der Autor verknüpft klassische Steampunk-Motive mit Elementen aus dem Abenteuer- sowie dem Science Fiction-Genre und erschafft auf diese Weise ein ungemein originelles Universum, in dem ein brillanter Einfall den nächsten jagt.

Die abenteuerliche Odyssee Orphans ist gespickt mit ausgefallenen „Gastauftritten“ realer und fiktiver historischer Persönlichkeiten. Karl Marx und Oscar Wilde finden sich ebenso wie Irene Adler und Sherlock Holmes. Dabei nimmt sich Tidhar in der Darstellung der jeweiligen Personen so manche Freiheit; Marx als Zuschauer in einer Hahnenkampf-Arena zu erleben, ist etwas, das einem auch im Rahmen phantastischer Literatur nicht allzu häufig begegnet. Der Geschichte tun derartige Verzerrungen historischer Tatsachen aber keinen Abbruch, sondern bereichern sie vielmehr um eine Vielzahl unerwarteter, höchst innovativer Momente.

Die Geschichte als solche pendelt zwischen düsterer Detektivstory à la Raymond Chandler, visionärer SF-Erzählung à la Jules Verne und packendem Abenteuer, wie es eines Robert Louis Stevenson würdig ist. Mit viel sprachlichem Feingefühl und einem exzellenten Gespür für Storywendungen wie Charakterentwicklungen, wirft Tidhar seinen jungen Helden in ein abwechslungsreiches Abenteuer, bei dem man in keiner Hinsicht sicher sein kann, was einen auf der nächsten Seite erwartet. Immer wieder schlägt die Handlung neue Wege ein und überrascht den Leser mit Entwicklungen, die er so nicht voraus gesehen hat.

Ähnlich wie Neal Stephenson, wenn auch in deutlich kleinerem Rahmen, wechselt Tidhar dabei öfter den Erzählstil und gibt gerne auch mal Briefe und Gedichte zum Besten. Leser, die dies nicht kennen, werden im ersten Moment ein wenig irritiert von diesen Wechseln sein. Hat man sich aber erst einmal in das Buch eingelesen (was überhaupt keine Mühe bereitet!), erweist sich Tidhars Erzählweise als haargenau passend für die außergewöhnliche phantastische Geschichte, die er erzählt.

Wenn ich wollte, könnte ich diese Rezension noch einige Zeit lang fortführen. Meine Umschreibungen werden der fast schon magischen Kraft, die »The Bookman« innewohnt, aber kaum gerecht. Von daher kann ich nur dringendst empfehlen, sich selbst ein Bild von diesem einzigartigen Roman zu machen (etwa per Leseprobe, die ihr unter  http://angryrobotbooks.com/samples/TheBookman.pdf findet). Ein Buch, das nicht nur für Steampunk-Fans ein wahrer Genuss ist.

Zwei Nachträge seien mir noch erlaubt. Zum einen: Bisher ist das Buch nur im englischsprachigen Original zu haben. Ein Fakt, der sich, wie man für den des Englischen nicht mächtigen Fantasylesers nur hoffen kann, im Zuge der Steampunk-Begeisterung, die Deutschland derzeit erfasst hat, hoffentlich bald ändert. Viel besser war das Genre meiner Meinung nach nie.

Zum anderen: Eine gute Nachricht für alle, denen »The Bookman« so gut gefällt wie mir: Tidhar kehrt in das von ihm geschaffene Universum zurück! Zwar ist das Buch in sich abgeschlossen, doch wie es scheint, hat der Autor noch so manche Idee im Hinterkopf für weitere Abenteuer in diesem einmaligen fiktiven Kosmos. Ob diese Ideen so herausragend sind wie seine ursprüngliche, wird sich Mitte des Jahres zeigen. Dann nämlich erscheint unter dem Titel »Camera obscura« das nächste Steampunk-Buch aus der Feder von Tidhar. Eine Neuerscheinung, der ich wie kaum einer anderen mit jeder Menge Vorfreude entgegenfiebere.

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