Gentle, Mary: 1610
1610
Originaltitel: A Sundial in a Grave (2003)
deutsche Ausgabe (2006)
in 3 Teilen:
1. 1610: Der letzte Alchimist (1+2)
2. 1610: Kinder des Hermes (3+4)
3. 1610: Söhne der Zeit (5)
von Mary Gentle
Bastei Lübbe Fantasy;
20529/20537/20544
428 / 397 / 269 Seiten;
Taschenbücher; 7,95 / 8,95 / 8,95 Euro
ISBN: 978-3-404-20529-5
/ 978-3-20537-0 / 978-3-20544-8
Verlagsgruppe Lübbe
Paris, 1610: Valentin
Rochefort, berüchtigter Fechter und Duellant, ist auch Spion und der Mann fürs
Grobe seines Herrn, des Herzogs de Sully, Hauptminister und rechte Hand von
König Heinrich von Navarra, Heinrich IV. von Frankreich. Das Vertrauen in
seine Fähigkeiten ist so groß, dass Maria de Medici, die Königin, ihn erpresst
und nur einen ganzen Tag Zeit lässt, die Ermordung ihres Gatten durchzuführen.
Gezwungenermaßen führt Rochefort den katholischen
Expriester Ravaillac an des Königs Kutsche heran, aber in der Absicht, ihn
scheitern zu lassen; unglückliche Umstände aber lassen das Attentat gelingen.
Nunmehr selbst unter Verdacht und ums einen Herzog zu schützen, setzt sich
Rochefort aus der Stadt ab, gefolgt vom siebzehnjährigen, unbekümmerten
Messiere Dariole, dem einzigen Mann, der ihn einmal in einem (Wirtshaus-)Kampf
bezwungen hat und liebend gern prüfen möchte, wer denn nun der Bessere von
beiden sei; dazu verbirgt Dariole mehr als manche ahnen.
Am Strand der Normandie retten sie Saburo
Tanaka, Samurai und letzter Überlebender eines Schiffsunglücks, dem die gesamte
Delegation des japanischen Shogun an den Hof des englischen Königs zum Opfer
fiel. Nach Abwehr der nachgesandten (12) Häscher der Königin erreichen
alle drei London und geraten vom Regen in die Traufe, denn dort erwartet sie
bereits Robert Fludd und erpresst Rochefort erneut, den König zu töten
diesmal James I. Stuart.
Robert Fludd ist Arzt und Astrologe, einer der
letzten Schüler Giordano Brunos, mit dessen Formeln er die Zukunft
vorausberechnen kann, und nun haben diese seine jahrelangen mathematischen
Berechnungen ergeben, dass nicht nur der zweite Sohn James, Charles, in 29
Jahren einen Bürgerkrieg auslösen wird, sondern in ferner Zukunft (500 Jahre
später) ein riesiger Komet die Erde treffen und zerstören wird. Nur die
Beseitigung James und die Thronbesteigung von Henry, des Prince of Wales, und
seine Beratung sodann durch Fludd kann in dessen Augen dies verhindern. Er
beweist Rochefort auf vielfältige Weise, dass seine Behauptung der Vorhersage
richtig ist, kann er doch überall die Versuche, London zu verlassen, verhindern
und verfügt auch sonst noch über drastische Mittel, sich durchzusetzen.
In der Folgezeit müssen nun Rochefort und
seien Begleiter alles Mögliche versuchen, diesem scheinbar völlig
vorherbestimmten Schicksal zu entgehen.....
Und die Bibel (auch ein Fantasywerk...) hat
doch nicht immer recht.
Der Rezensent hat, wenngleich unwissentlich,
den Fehler begangen, von den (wenigen deutschen) Werken der Mary Gentle als
erstes The Story of Ash: A Secret History zu lesen (siehe auch
die Fussnote), also den guten Wein zuerst sich zu servieren, wie es dem
Bibelgleichnis frommt. Mit diesem Mammutwerk (allein vom Umfang her ist es
doppelt so stark wie 1610, das doch auch schon 1094 Seiten umfasst) hat sie
derart hohe Maßstäbe gesetzt, dass man auch an ihre anderen Bücher Erwartungen
hat.
Man wird enttäuscht.
Wohlverstanden: auch 1610 ist für sich
betrachtet nicht schlecht, sondern eine jederzeit spannende, intensive
Leselektüre. Insbesonders die Hauptperson (als Ich-Erzähler), der in sich
zerrissene, an sich zweifelnde Rochefort, der sich immer zwischen
professionellem Auftreten und eigenen Empfindungen entscheiden muss, loyal bis
zur Selbstverleugnung, ist außerordentlich faszinierend dargestellt und
glaubwürdig; die schließlich auch noch auftretende weibliche Hauptfigur dagegen
ein wenig klischeehaft, teilweise feministisch angehaucht und (nein, nicht
deshalb, aber...) unreif bis unlogisch reagierend (wobei letzteres im Sinne der
Handlung gar nicht immer falsch ist...), desgleichen ein wenig Samurai-Romantik
(irgendwo von fern grüßt Richard Chamberlain...) und diverses Lokalkolorit,
wenn es um verrufene Londoner Stadtteile, Schauspielkunst, die Pest und nicht
zuletzt die Intrigen französischer und englischer Politik jener Zeit geht.
Aber:
es gibt keinerlei Grund, dieses Buch hier in
einer Fantasy-Reihe erscheinen zu lassen. Das sind falsche Vorazussetzungen. In
The Story of Ash war das noch anders, die Gewichte hier, grobgeschätzt,
mit 5 Teilen Fantasy zu 20 SF zu 70 History.
In 1610 findet man gerade einmal 2 Tröpfchen
Fantasy, sozusagen stärkeren Alkohol im großen Fass süffigen Landweins. Eines
davon ist Astrologie. Nach meiner ganz privaten Meinung liegt hier zwar ein
viel größer Potential, aber nur darin, dass immer noch, selbst und gerade
heutzutage, derart viele Leute daran glauben, Esoteriker, Weissager,
Horoskopisten und etliche mehr damit ihr Geld scheffeln und selbst so olle
Kamellen wie die Prophezeiungen des Nostradamus ihre Gläubigen finden. Der
lebte bekanntlich einige Generationen früher und wird bezeichnenderweise von
Rochefort und Fludd als dummer Wirrkopf bezeichnet.
Das zweite Tröpfchen sind die mysteriösen
Formeln des Giordano Bruno, aber geheimnisvoll eben nur dadurch, dass sie nur
als gegeben genannt werden, aber nie genau beschrieben. Der deutsche Titel zum
ersten Teilband versucht mit dem Wort Alchemist das ganze noch etwas aufzupeppen,
aber das (ein Blei in Gold-Verwandler und ähnliches) ist Fludd erst
recht nicht
Er selbst stellt nicht die Formeln in Frage,
sondern wendet sie nur an, mit langwierigen, mathematischen Berechnungen
und damit aus seiner Sicht völlig rational. Was geschehen wird, ist für ihn
daher mehr Science Fiction, Zukunftsabfolge. Er besitzt sich, im Jargon, so
was wie eine passiven Zeitmaschine, einen Sichtschirm ins Zukünftige, doch
ändern kann er nichts außer in dieser, seiner Gegenwart (im Gegensatz etwa zu
dem, immer wieder empfehlenswerten, fast klassischen Roman von Carl Amery Das
Königsprojekt, wo die Jesuiten über eine realexistierende Zeitmaschine
verfügen und sie auch einsetzen).
Und letztlich ist es auch nur eine Frage
von, in modernen Termini, Daten-Input und Rechenzeit, ob und wie sicher seine
Voraussagen sind: Je mehr er rechnete, desto genauer tritt alles ein ebenso, je
mehr Daten er hatte, verbunden mit der ausstehenden Zeit (je langfristiger,
desto ungenauer). Er sieht zukünftige Abläufe und sortiert sie nach
Wahrscheinlichkeiten; gerade das wird seine Achillesferse, denn wer immer
das Unwahrscheinlichste tut, ändert die Grunddaten und beschreitet einen
anderen Weg; in eben der Theorie von Alternativwelten, dem Untergenre der Science
Fiction, das darauf basiert, dass mit jeder bewussten Entscheidung/Tat sich
irgendwohin in einen physikalisch unbestimmten Raum ein neues Kontinuum
abspaltet, in dem die Dinge nun eben so ablaufen. Darauf will er hinaus; und,
vermutet der Leser, der ja immer noch zunächst einen höheren Gehalt an
Phantastik erwartet, die Autorin, und nur um die Spannung nicht völlig
wegzunehmen, verrät der Rezensent hier nicht, wie es ganz genau ausgehen
wird....
Dennoch ist dies zu 99 % ein historischer
Roman, zwar auch eine Secret History, aber eine, die bekannte historische
Tatsachen in einer spannenden Abenteuerhandlung um die Personen zu erklären
versucht. Rochefort tritt als ein (wichtiger) Nebencharakter in Dumas
Musketieren auf; ob sich 1610 an Art eines Dumas-Roman orientiert
(vermutlich nicht?), kann der Rezensent, mangels Lektüre letzteren, nicht
beurteilen, da er dies nur aus den diversen Verfilmungen kennt (in einer soll
ihn Christopher Lee verkörpern).
Von den historischen Persönlichkeiten kommt
James I. vermutlich etwas zu gut weg, ist er doch der, an den man sich
heutzutage als derart unbeliebt erinnert, dass ihn (plus Parlament) die
Pulververschwörung von 1605 hinwegfegen sollte; und das ist noch heute
(Guy Fawkes-Day) ein englisches Erinnerungsdatum.... Und Robert Fludd ist (im
Gegensatz zu Rochefort) ebenfalls eine nicht unbekannte historische
Persönlichkeit.
Die wahre Geschichte hinter der Geschichte ist
eben ein Produkt dichterischer Freiheit, manchmal ein wenig arg ausgedehnt (besonders
in der Reise, die die Hauptpersonen im deutschen Teil 5 unternehmen), aber
letztlich dann doch nicht so völlig von der Hand zu weisen.
Und ein schönes Lesevergnügen ist es, unter
den genannten Voraussetzungen, allemal.
THE STORY OF ASH: Zu diesem umfangreicher
Meisterwerk von Mary Gentle erscheint eine ausführliche Rezension der deutschen
Taschenbuchausgabe demnächst (Sommer) in
Magira
Jahrbuch zur Fantasy 2008
eine regelmäßige, empfehlenswerte Publikation,
auf die ich hier die geneigten Leser explizit hinweisen möchte. Siehe auch
www.magira.com
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