Die Bewandtnis mit Atlantis: 2. Die historische Quellenlage - Timaios-Dialog (kommentiert)
2. Die historische Quellenlage
Ein kommentierter Auszug aus dem Timaios- Dialog:
Die große Legende einer unbekannten Vorgeschichte
Ein kommentierter Auszug aus dem Timaios- Dialog:
Die große Legende einer unbekannten Vorgeschichte
Bis hierhin propagiert Plato eine Art Ständeordnung, welche die Soldaten von den Bauern und Handwerkern scheidet. Damit dürfte man ihn in Sparta willkommen geheißen haben, wo damals die reinblütigen Einwohner der Stadt (und des benachbarten Amyklai) den Süden der Peloponnes als Kriegerkaste beherrschten (regiert von Doppelkönigen und einem Rat), flankiert von einigen weniger Rechte besitzenden Umwohnern (Periöken), während die Bewohner des eroberten Messeniens rechtlose Heloten darstellten, deren Aufgabe es war, ihre Herren mit Nahrung und Diensten zu versorgen.
Platos Familie hat durchaus ihre Gründe gehabt, den Spartanern dankbar zu sein. Die dreißig Tyrannen, zu denen sein Onkel Kritias gehört hat, sind schließlich 404 v. Chr. von ihnen eingesetzt worden.
Auch dies fügt sich noch in den spartanischen Geist ein, dem Tugend und Maß mehr gelten sollten, als Reichtum und Laster. Er fordert, daß man die Kämpfer mit einem gewissen Maß an Wissen versieht, wobei er auch die Tonkunst für nötig hält. Vermutlich entspringt dies einer eher idealisierten Vorstellung von Bildung, als daß er dabei an so etwas wie Skalden oder Kampfbarden gedacht hat. Oder gar an laut und falsch singende Truppenteile, die unter dem Fenster seines Schlafzimmers vorbei marschiert sind!
Dem heute lebenden Menschen der westlichen Welt mag es befremden, aber unsere Vorstellung von Liebe und dem Bund fürs Leben ist eigentlich etwas ganz Exotisches. Über den größten Teil der Geschichte hinweg haben nur die wenigsten Leute ihren Ehepartner frei wählen dürfen. Meist war es die Familie, die aus reinen Bündnis-, Macht- und Geldinteressen die Kinder miteinander verheiratete.
Platos Vorstellung ist in dieser Beziehung schon etwas humaner, in dem er fordert, Mann und Frau müßten von ähnlicher Beschaffenheit sein, also in ihren charakterlichen Eigenschaften (bzw. übrige Lebensweise) zueinander passen.
Da Plato auch vom Konzept der Familie abgekommen ist (siehe unten), redet er von man, der Braut und Bräutigam einander zugesellt. Die Freiheit der eigenen Entscheidung bei der Wahl des Gatten kennt er gar nicht.
Die Kinder sollen also den Eltern weggenommen und in Waisenhäusern großgezogen werden. Dadurch sind sie sowohl einander gleich, als auch in Bezug zur älteren Generation. Die Institution Familie ist ersetzt worden durch die große Gemeinschaft.
Das erinnert ein bißchen an Karl Marx, der in seinem Manifest immerhin gefordert hat, die Ehefrauen zum Eigentum aller Männer zu machen. Der Kommunismus ist also selbst in seiner radikalsten Form keine Erfindung der Neuzeit.
Natürlich hat Plato bei seinem Vorschlag keine Entmenschlichung im Sinn gehabt. Ihm ist es vielmehr darauf angekommen, jedem Erdenbürger von Beginn an die gleichen Chancen zu verschaffen. Begabungen und Talente sollten bestimmen, welchen Lebensweg er einschlägt, und nicht seine Herkunft.
Es ist also beabsichtigt, die Menschen im heiratsfähigen Alter anhand ihrer Anlagen und Fähigkeiten in Gute und Schlechte aufzuteilen. Man sollte es sich demnach nicht verderben mit den Vorstehern und Vorsteherinnen des Staates (Plato läßt auch Frauen für dieses höchste aller Ämter zu!), sonst könnte man recht schnell in die Gruppe der Schlechten gesteckt werden. Da mag man dann noch so viele Sätze des Pythagoras an die Wand malen, man wird trotzdem für den Rest seines Lebens Getreide anbauen und ernten müssen.
Innerhalb der beiden Personenkreise entscheidet dann das Los darüber, wer mit wem zusammenzuziehen und Kinder zu zeugen hat. Plato muß wahrlich sehr alt gewesen sein, als ihm dieser Gedanke gekommen ist. Wenn er gemeint hat, auf diese Weise Liebe und Lust, Sehnsucht und Leidenschaft außer Kraft setzen zu können, muß er auch an seine letzte Midlife- Crisis kaum noch Erinnerungen gehabt haben.
Aber wie gesagt, unsere heutige Auffassung von der Sache ist im Licht der Historie betrachtet eine äußerst Ungewöhnliche.
Ein gewisser Hang zur Eugenik läßt sich Plato nicht absprechen. Die Kinder der Guten werden bei ihm automatisch vom Staat großgezogen. Da ihre Eltern aufgrund ihrer hervorragenden und zueinander passenden Eigenschaften ausgewählt worden sind, geht er wie ein Züchter von Rassehunden davon aus, daß sich diese Merkmale auch auf den Nachwuchs vererben.
Trotzdem hält er es für möglich, daß auch Kinder von als unwürdig eingestuften Paaren außerordentlich begabt sein können. Dies bekäme man nur durch Beobachtung heraus, und die Entdeckten wären dann den anderen, bereits für gut Befundenen hinzu zu gesellen. Umgekehrt kann der als würdig eingestufte seinen Rang aber auch wieder verlieren.
Damit gibt es für Plato nicht nur kein Geburtsrecht auf Zugehörigkeit zu einem Stand, es besteht auch keine Garantie, daß man dort verbleibt, wenn die Einordnung erst einmal erfolgt ist. Er zieht es also auch in Betracht, daß Menschen sich ändern können. Und ebenso, daß die Herrschenden sich irren können, und so manche Entscheidung einer Revision bedarf.
Allein dieser selbstkritische Ansatz und seine flexible Haltung in Bezug auf die Ständeordnung erheben ihn bereits über viele Nepotisten und Filzokraten unserer Tage. Von den Dynasten seiner Epoche, die es auch im griechischen Kulturkreis gab, mal ganz zu schweigen!
Mit seinem Lehrer Sokrates als alter ego ergötzt sich Plato an den eigenen Phantasien. All der Selbstlob führt ihn aber zu dem Bedauern, daß es sich bei dem von ihm kreierten Staat um eine bloße Kopfgeburt handelt. Gerne hätte er einmal erlebt, wie sie sich in der Realität bewährt (Denn daß sie funktionieren muß, steht für ihn außer Zweifel).
Einen kleinen Seitenhieb auf die Sophisten hat er sich auch nicht verkneifen können. Er meint, vor lauter Umtriebigkeit würde ihnen der Sinn für die praktische Anwendung fehlen.
Dies ist auch der Punkt, an dem Hermokrates und Kritias eingeführt werden. Der Erstgenannte wird wegen seiner Bildung gerühmt, und der Letztgenannte (Platos Onkel), der auch Erfahrungen als Herrscher hat, als mit allen Wassern gewaschen. Wo Sokrates aufgrund seiner plebejischen Abstammung nicht über die Erziehung verfügen kann, die geschichtliches Wissen beinhaltet, ist es ihre Rolle, in die Bresche zu springen.
Wer seinen Herodot kennt, der weiß, daß Gaststätten der Wissenschaft des Abendlandes immer wieder gute Dienste geleistet haben. Man könnte nun meinen, auch Plato würde sich dieser Tradition bedienen. Doch ist hier das Quartier im Haus des Kritias gemeint, und der Wirt ist niemand anderes als der Hausherr selbst, der während des gestrigen Abends zu dem Thema geschwiegen, nach der Rückkehr aber um so mehr zu erzählen gewußt hätte.
Dadurch, daß Plato seinen ehrenwerten Ahnherren (und keinen einfachen Gastwirt) zum Kronzeugen beruft, möchte er seiner Geschichte Glaubwürdigkeit verleihen. Allerdings irritiert es ein wenig, daß das Wissen von Solon stammen soll, der es Dropidas erzählt hat, welcher es dann an Kritias weitergegeben hat, der es schließlich (eventuell über Sokrates) Plato zukommen läßt, der es letzten Endes uns auf die Nase binden möchte. Damit läuft die Geschichte also schon über fünf Ecken Hörensagen. Hörensagen aber ist wie das Spiel Stille Post: Je mehr Zwischenstationen es gibt, um so weniger bleibt von dem ursprünglichen Inhalt erhalten.
Das Kritias sein Wissen als Zehnjähriger aufgeschnappt haben will, läßt ihn nicht unbedingt seriöser erscheinen.
Faszinierend ist, daß der Kauf- und Staatsmann Solon hier als Dichter präsentiert wird, dessen Gedichte sich auch lange nach seinem Tod noch einer so großen Beliebtheit erfreuten, daß sie gleich von mehreren Knaben rezitiert wurden. Wollte Plato hier seinen Ahnen glorifizieren, oder einfach nur eine vergessene Seite von ihm ins Gedächtnis zurückrufen? Denn weder erwähnt sonst irgendein Schreiber der Antike etwas von Solons angeblicher Neigung zur Poesie, noch ist uns auch nur das Fragment eines Verses erhalten geblieben, das dem großen Reformer zugeschrieben wird.
Das mystische, das geheimnisvolle Ägypten! Noch heute erfreut es sich bei Esoterikern und Okkultisten einer Beliebtheit, mit der es weder die Sumerer, noch sonst eine alte Kultur aufnehmen können.
Damals war es nicht viel anders. Am Nil konnte man schon auf zwei Jahrtausende Geschichte zurückblicken, als in Hellas der Überlieferung zufolge noch die Götter geherrscht haben sollten. Damit gewann das Pharaonenreich auch selbst etwas Göttliches.
Außerdem galt es als Garant für uraltes Wissen, und damit als zusätzlicher Bürge für die Seriosität des Berichts.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß Plato zwar die interpretatio graeca anwendet, aber nicht blindlings. Er stellt eine Gemeinsamkeit, und damit eine Verbundenheit her zwischen Sais und seiner Vaterstadt, indem er Athene als Herrin beider Orte nennt. Im selben Satz aber fügt er an, daß ihr einheimischer Name Neith lautet. Damit ist er präziser als die meisten seiner Landsleute. Vielleicht möchte er auf diese Weise unterstreichen, daß seine Kenntnisse wirklich von Jenseits des Mittelmeeres stammen. Vielleicht aber läßt die Stelle auch nur erkennen, daß diese Passage auf tatsächlichem Wissen beruht. Daraus könnte man jedoch im Umkehrschluß folgern, daß die Stellen, wo er uns die originale ägyptische Bezeichnung verschweigt, ganz auf seinem eigenen Mist gewachsen sind.
Andererseits kann man auch Haare spalten und über- interpretieren.
Wenn Plato in diesem Absatz nicht dreist von Herodot geklaut hat, so mag er doch von ihm inspiriert worden sein. Letzterer nämlich hat über Hekataios von Milet geschrieben, der etwas ganz Ähnliches erlebt hat wie laut Plato Solon (Ich werde an anderer Stelle darauf eingehen).
Dieser Absatz erfreut sich bei Esoterikern jeglicher Couleur einer besonderen Beliebtheit, ist darin doch die Rede davon, daß Sagen nichts weiter sind, als von Unwissenden zu Mythen verfremdete Naturereignisse. Und als Beispiel wird auch noch gleich eine astronomische Katastrophe mitgeliefert, die sich je nach Belieben als Meteoriteneinschlag deuten läßt, als aus der Bahn geratene Planeten, oder als Krieg im Weltraum. Vielleicht aber hat man auch nur eines Nachts festgestellt, daß die alten Aufzeichnungen zum Lauf der Gestirne nicht ganz korrekt waren. Daß es solche Veränderungen gibt (Vorrücken des Frühjahrsanbruchs aufgrund der Ekliptik), sollte später der Sternenkartograph Hipparchos von Nikaia (190 120 v. Chr.) herausfinden.
Wie dem auch sei, wer eine Hypothese wie die Obige aufstellt, beruft sich auf weit zurück reichende astronomische Kenntnisse. Und zwar auf solche, die sich nicht auf die praktische Anwendung in der Seefahrt oder Landwirtschaft beziehen, sondern auf die wissenschaftliche Forschung, Auswertung und Chronologie.
Und Plato hat dieses Beispiel nicht ohne Grund in seinen Dialog eingebaut: Er gibt uns damit zu verstehen, daß er auf den Pfaden des nüchternen Forschers wandeln möchte, und nicht auf denen eines gläubigen Mystikers.
Daß er von einem geozentrischen Weltbild ausgeht, mag man ihm als Kind seiner Zeit verzeihen. Erst Aristarch von Samos (320 bis 250 v. Chr.) wird die Idee haben, an Stelle der Erde die Sonne in die Mitte zu setzen.
Hier soll eine Erklärung geliefert werden dafür, daß allerorten Völker entstehen und vergehen, die Ägypter aber immer übrig bleiben. Es spricht für die relative Aufgeklärtheit von Plato und seiner Epoche, daß er sich nicht in Legenden über göttliche Wohltaten ergießt, sondern im Gegenteil eine nach naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten plausible Begründung liefert.
Damit stellt er aber auch die Hypothese auf, daß sämtliche Völker und Kulturen von zyklisch auftretenden Katastrophen heimgesucht werden, die man nur am Nil aufgrund der geographischen und klimatologischen Vorteile regelmäßig übersteht.
Hier offenbart uns Plato, daß er tatsächlich über Wissen verfügt, das er gar nicht haben dürfte. Er erwähnt, daß die Griechen (und die übrigen Staaten) dereinst einmal eine Schrift gehabt, doch nur die Analphabeten eine der zyklisch wiederkehrenden Katastrophen überlebt haben. Die Ära von Mykene, die irgendwann zwischen dem dreizehnten und dem zwölften Jahrhundert vor Christus im Seevölkersturm ein Ende fand, war noch in den Heldenepen gegenwärtig. Man besang sie mit den Sagen um Theben, mit den Taten des Herakles, mit der Fahrt der Argo und in den Liedern vom Trojanischen Krieg. Doch dies waren Legenden, keine Geschichtsschreibung. Davon, daß man sich damals der Linear B- Schrift bedient hatte, die nach dem Untergang aber in Vergessenheit geraten war, wußten die Hellenen nichts mehr. Auch nicht Solon oder Plato. Wenn er trotzdem darüber schreibt, hat er entweder gut geraten, oder tatsächlich auf uralte Quellen zurückgegriffen.
Damit gewinnt der Philosoph etwas an Glaubwürdigkeit.
Wenigstens eure jetzigen Geschlechtsverzeichnisse, wie du sie (eben) durchgingst, unterscheiden sich nur wenig von Kindermärchen.
Die Erwähnung der Geschlechtsverzeichnisse findet sich wiederum in Herodots Bericht über Hekataios von Milet wieder.
Plato als tumber Patriot! Die Lobpreisung der Bewohner seiner Heimatstadt, die er auch noch den mit dem Wissen von Jahrtausenden ausgestatteten Ägyptern in den Mund legt, erinnert an die nationalistische Überheblichkeit und die gedankenlose Selbstverliebtheit, welche die Welt in den Ersten Weltkrieg gestürzt haben. Das trefflichste und edelste Geschlecht unter den Menschen war das beste im Kriege und mit der in allen Stücken ausgezeichnetsten Verfassung ausgerüstet, und ihm wurden die herrlichsten Taten und öffentlichen Einrichtungen unter der Sonne nachgesagt.
Der Philosoph hat es wohl für nötig befunden, sich zuhause einzuschmeicheln. Befürchtete er, seine theoretischen Überlegungen zur idealen Staatsform könnten den realen Mächtigen ein Dorn im Auge sein? Schließlich behauptete er nichts Geringeres, als daß es in Athen einmal eine Verfassung gegeben hätte, die er für die beste von allen hielt. Das könnte man auch als Kritik an der attischen Demokratie seiner Zeit interpretieren. Gerade wenn man ein verhinderter Politiker und Neffe des Oligarchen Kritias ist! Und wo die Macht vom Volke ausgeht, sollte man es sich nicht mit ihm verderben.
In Platos späten Jahren, denen wir seine Atlantis- Dialoge verdanken (gegen 360 v. Chr.), zogen aber auch schon Wolken am Horizont auf, die Anlaß zur Sorge gaben. Er erlebte die Hegemonie von Theben, der selbst die einst mächtigen Poleis Athen und Sparta im Bündnis miteinander nicht hatten aufhalten können. Allein der Tod des thebanischen Feldherrn Epameinondas in der für ihn siegreichen Schlacht bei Mantineia 362 v. Chr. hatte sie noch einmal gerettet. Dafür wurde im fernen Norden das von Dynasten regierte Makedonien stärker und stärker. In einer solchen Lage konnten es die Athener gewiß gut gebrauchen, wenn da jemand kam und ihr Selbstvertrauen stärkte.
Vielleicht hat hier mehr der Politiker, als der Philosoph Plato die Feder geführt.
Hier kommen sie nun, die berüchtigten großen Zahlen. Heiligen Büchern zufolge soll Ägypten zum Zeitpunkt von Solons Besuch 8000 Jahre alt sein, und Athen sogar 9000 Jahre. Solch wahnwitzige Zeitspannen haben Tradition, wenn man sich auf eine Vergangenheit bezieht, aus der es keine gesicherten Überlieferungen mehr gibt. Herodot etwa hat man erzählt, in der Geschichte Ägyptens seien vom ersten Pharao Menes bis zum Pharao Sethos 11.340 Jahre verstrichen. Aber damit standen sie nicht allein, denn andere Völker hatten ähnliche Vorstellungen. Die Tartesser beispielsweise sollen fide Herodot nach Gesetzen gelebt haben, die sechs Jahrtausende vor ihrer Zeit abgefaßt worden waren.
Dabei hätten die Ägypter durchaus die Gelegenheit gehabt, ihre Aufzeichnungen durchzugehen, und anhand der Regierungszeiten ihrer Herrscher das wahre Alter ihrer Kultur zu errechnen. Aber Solon als Großkaufmann und ehemaliger Archont Athens war wohl eher aus wirtschaftlichen und vielleicht auch politischen Interessen an den Nil gereist. Historische Schriften hat er keine hinterlassen, und auch sonst deutet nichts darauf hin, daß ihn die graue Vorzeit über Gebühr interessiert hätte. Dementsprechend dürfte es bei seinem Besuch mehr um Zölle und Monopole gegangen sein. Wenn man mal abschweifte und die verschiedenen Entstehungsmythen der beiden Völker erörterte, dann war dies wohl mehr nebensächliche Konversation, so daß man genauere Nachforschungen für unnötig hielt.
Herodot dagegen war nicht als Staatsgast ins Land gekommen, sondern als wißbegieriger Tourist. Er hatte nicht den Zugang zu eingeweihteren Kreisen, wie er einem Solon offengestanden hatte; viele seiner Quellen waren niedere Chargen und einfache Bürger.
Aber wir wollen die 9000 Jahre nicht in Frage stellen, bevor wir sie überprüft haben!
Nebenbei ist es Plato wichtiger gewesen, sich weiterhin bei seiner Vaterstadt einzuschleimen, als auf die Logik seiner Ausführungen zu achten. Also ist ihm ein weiterer kapitaler Fehler unterlaufen: Laut Herodot hielten die Menschen am Nil nur ein Volk für älter als sich selbst, nämlich die Phryger (siehe Kapitel: Was wußten die Ägypter wirklich?). Auch Plato fährt zunächst auf der Schiene, daß die Ägypter als Einzige all die zyklisch wiederkehrenden Katastrophen überstanden hätten ( einen alten Hellenen gibt es nicht.). Nun aber müssen die Athener doch die große Ausnahme darstellen, und sogar noch tausend Jahre älter als das Reich am Nil sein. Nur: Wer will denn Buch geführt haben über diese unvorstellbar lange Zeitspanne, wenn die Athener ihre Schrift verloren haben, und die Ägypter erst ein Millenium später auf der Matte stehen sollten?
Plato zieht eine Verbindung von dem ägyptischen Kastensystem zu seinen eigenen Überlegungen. Die Absicht ist klar: Seine Schriften sind reine Theorie, und solange es nichts in der Realität gibt, mit dem man sie vergleichen kann, kann sie jeder ungestraft als Spinnereien abtun, denen es an Praxistauglichkeit mangeln würde. Antisthenes und seine Kyniker waren da das beste Beispiel, wo sie die Wirklichkeit über jedes Gedankenkonstrukt stellten.
Mit diesem Vergleich aber wäre jede Kritik an Platos Verfassung auch eine an dem ägyptischen System, und das gab es ja tatsächlich. Umgekehrt aber konnte man die Verhältnisse am Nil angreifen, und würde seiner Lehre trotzdem nicht schaden, denn sie waren ja nur ein Derivat seiner idealen Staatsordnung.
Waffentypen sagen Einiges über die bevorzugte Kampfweise aus, erst recht in einer Zeit, in der Berufskrieger noch eine Seltenheit waren. Hiebwaffen erfreuen sich zum Beispiel einer gewissen Beliebtheit, wenn es sich bei ihnen um Werkzeuge aus dem Alltag handelt (Dreschflegel, Äxte zum Holz Hacken, Erntemesser, Sicheln), da ihre Anschaffung keine zusätzlichen Kosten verursacht. Für den zu Fuß Kämpfenden sind sie aber eher ungeeignet, weil ihr Einsatz einen großen Kraftaufwand erfordert. Stoßwaffen wie Piken und Kurzschwerter zehren hier nicht so sehr an der Ausdauer. So verwundert es auch nicht, daß sie bei den Phalangen der Antike und Römischen Kaiserzeit bevorzugt Verwendung fanden. Umgekehrt hätte ein Reiter Probleme mit einem Kurzschwert, müßte er sich damit doch im Gefecht mit Fußsoldaten ständig bücken. Mit Streitaxt, Langschwert oder Keule konnte er dagegen seine erhöhte Position ausnutzen. Auch Kurzbögen sind ideal für die Kavallerie, während Langbögen für solche Einsätze zu sperrig sind. Wurfwaffen (Pilum, Franziska etc.) schleudern sich vom Sattel aus weiter, doch vom festen Boden aus gezielter.
Die Proto- Athener kämpften laut Plato mit Speeren. Das taten die Athener zu seinen Lebzeiten auch, also hatte er keinerlei Gründe, darin etwas Schlechtes zu sehen. Man darf aber nicht vergessen, wie die Verhältnisse um 9600 v. Chr. ausgesehen haben. Da kannte man zwar schon Spieß, Lanze und Harpune, aber es waren in erster Linie Jagdwaffen (Spieße gegen Großwild, Harpunen gegen Fische etc.). Bis weit in die Bronzezeit hinein gab es noch keine echten Heere, und Kriege zwischen einzelnen Stämmen waren mehr kleinere Überfälle, vielleicht im Stil eines Streits zwischen Straßengangs. Aus dem Grund bot sich der Hinterhalt an, und so erstaunt es auch nicht, daß sich Pfeil und Bogen einer großen Beliebtheit erfreuten. Sollte es zum Scharmützel kommen, so bevorzugte man Waffen, die auch ohne den Schutz einer militärischen Formation effektiv eingesetzt werden konnten. Die Bewohner des Dorfes bei Talheim, die gegen 5000 v. Chr. mit Mann und Maus abgeschlachtet worden waren, hatte man mit Beilen, Äxten und Keulen getötet. Ein Speer ist praktisch für den Reiter und für den Hopliten. Um 9600 v. Chr. war jedoch weder das Pferd domestiziert, noch kannte man die Phalanx. Und im Dickicht oder Scharmützel sind handlichere Waffen nützlicher.
Berücksichtigt man dann auch noch mit den etwas abenteuerlicheren Hypothesen, bei Atlantis hätte es sich um eine moderne oder gar außerirdische Zivilisation gehandelt, so mutet die Vorstellung von den Lanzenkämpfern Ur- Athens erst recht albern an. Die Indianer Nordamerikas wußten sich der spanischen Arkebusen zu erwehren, und die Maori Neuseelands sogar der britischen Vorderlader, doch wie steht es mit den Wunderwaffen, die so manch einer den alten Atlantern zuschreibt? Mit Luftschiffen und Feuergeschossen, oder gar mit Laserstrahlen und Atombomben?
Zudem sollen die Atlanter eine Nation von Seefahrern gewesen sein. Bevor die Römer im Ersten Punischen Krieg die Enterbrücke erfanden, waren Speere nicht gerade geeignet für eine Schlacht auf dem Wasser. Keine Wurflanze erreicht auch nur annähernd die Weiten von Pfeil oder Armbrustbolzen. Zum Entern dagegen brauchte es kleine, handliche Waffen, mit denen man sowohl vom Seil aus, als auch zwischen der Takelage unbehindert kämpfen konnte.
Dies allerdings gilt für große Segler und Triremen, und die sind weder um 9600 v. Chr. nachgewiesen, noch in den Jahrtausenden danach. Mit einem kleinen Boot aber stellen sich noch ganz andere Probleme. Mit dem Spieß mag man zwar einen Fisch oder eine Robbe erlegen, doch geht es gegen einen anderen Menschen, gerät man recht schnell ins Kentern.
Wenn die Proto- Athener also die Angreifer mit dem Speer bezwungen haben sollen, so muß dies bereits nach deren Landung geschehen sein. Doch wie mag dann dieser Sieg ausgesehen haben? Die spätere Stadt Athen lag ja auf keiner Insel, sondern in Attika, also auf dem griechischen Festland. Ja, wenn die Atlanter von Westen her kamen, werden sie sich wohl zuerst in Epirus, Aetolien und der Peloponnes festgesetzt haben, bevor sie weiter nach Osten vorgedrungen wären. Es ist also äußerst unwahrscheinlich, daß man sie auf die Schiffe zurückgetrieben, und fortan Ruhe vor ihnen gehabt hat. Erst recht, wenn es sich bei den Proto- Athenern noch um eine steinzeitliche Kultur gehandelt hat. Eingeborenenstämme dieser Sorte muß der Feind zuvor schon im Dutzend unterworfen haben. Sollte da wirklich eine einzige Schlacht den Sieg gebracht haben, dann allerhöchstens, weil die Angreifer danach keine Bedrohung mehr gewesen sein können. Das wäre aber nur dann geschehen, wenn die Nachschubwege unterbrochen waren entweder, weil der Feind anderweitig beschäftigt war, oder aber, weil es ihn selbst auf einmal nicht mehr gab. Und dies wäre dann der Zeitpunkt gewesen, an dem die Hauptinsel untergegangen ist.
Wieder frönt Plato seinen eugenischen Vorstellungen, die er dermaßen mit der peinlichen Lobpreisung seiner Vaterstadt verknüpft, daß einen ein Athen über alles! nicht verwundern würde.
Daß die Athener übrigens die ältesten Einwohner Griechenlands sein sollen, ist nicht auf seinem Mist gewachsen. Schon Herodot hat uns überliefert, daß sie von Anbeginn an ununterbrochen in ihrer Stadt gelebt, und damit als einzige Hellenen niemals ihren Wohnsitz gewechselt hätten. Ursprünglich seien sie als Kranaer ein Teil der Pelasger gewesen, also der nicht indogermanischen Urbevölkerung Griechenlands. Erst während der Einwanderung der Dorer hätten sie die griechische Sprache übernommen.
Nun kannte Herodot nur eine Einwanderungswelle, nämlich die Dorische. Ob es diese so gegeben hat, und ob sie deutlich vom Seevölkersturm getrennt werden kann, ist vom Standpunkt der heutigen Wissenschaft aus betrachtet unsicher. Die mykenische Kultur zumindest wurde begründet von einer anderen, weit länger zurückliegenden Migrationsbewegung, nämlich dem Einsickern der Achaier (bzw. Aioler) zwischen 1850 und 1600 v. Chr.. Mit ihr wird auch zumeist die Ankunft der Ionier verknüpft, obwohl diese laut Herodot schon da gewesen seien, und lediglich ihre Sprache und (ein paar mal) ihren Namen gewechselt hätten.
Herodots Ausführungen stehen nicht ganz im luftleeren Raum da. Die Archäologie hat tatsächlich belegen können, daß es im Stadtgebiet Athens schon zur Jungsteinzeit einen Siedlungsplatz gegeben hat. Seit Mitte des dritten vorchristlichen Jahrtausends dann hat der Ort alle möglichen Neuankömmlinge assimiliert, ohne jemals nennenswerte Zeichen einer Eroberung oder Zerstörung aufzuweisen. Selbst der Name der Stadt ist vermutlich nicht indogermanisch, und seine Namenspatronin Athene wird zu den Göttinnen gezählt, die als Abspaltung der neolithischen Erdmutter weit älter sein sollen, als der griechische Pantheon.
Der Atlantik wird als Ozean betrachtet, den am anderen Ende ein großes Festland umgibt Das wäre eine treffende Beschreibung der nord- und südamerikanischen Ostküste. Und Atlantis war groß genug, daß man das Meer über ein paar weitere Archipel hat überqueren können.
Die Ägypter galten nicht unbedingt als die Herren der Sieben Meere Woher hatten sie die Kenntnis von einem Doppelkontinent, den erst der Wikinger Leif Eriksson gute anderthalb Jahrtausende später entdecken sollte?
Andererseits müssen wir uns nicht unbedingt darauf versteifen, daß es sich bei dem gegenüberliegenden Festland um den uns bekannten Doppelkontinent handeln muß. Dessen Existenz kann auch einfach einer Vorstellung entspringen, der zufolge am Rand der Erdscheibe kein Meer sein kann, weil sonst alles Wasser schon abgeflossen, und die Ozeane ausgetrocknet wären.
Aber wenden wir uns der erstaunlichen Größe der an dieser Stelle noch namenlosen Insel zu (Der Einfachheit plaudere ich einfach mal aus, daß es sich bei ihr natürlich um Atlantis handelt)!
Die Griechen teilten die Welt zu Solons Zeiten noch in zwei Kontinente ein, nämlich Europa im Norden und Asien im Süden (nach Anaximander). Erst in Herodots Ära fing man an, auch Libyen, also Afrika, als eigenständigen Kontinent anzuerkennen, wobei sich Herodot mit leichtem Spott nicht entscheiden möchte, zu welchem Kontinent Ägypten gehört. Zur Zeit des Plato hat sich die geographische Dreiteilung allgemein durchgesetzt.
Wenn Atlantis also größer als Asien und Libyen zusammen gewesen sein soll, dann müssen diese beiden Landmassen in der vorherrschenden Lehrmeinung der Epoche schon voneinander geschieden sein. Vielleicht hat Plato nicht gewußt, daß es die Kenntnisse seiner Zeit in Solons Ära noch nicht gegeben hat. Wahrscheinlicher aber ist, daß die Ägypter, die ja schließlich Anrainer des Roten Meeres gewesen sind, schon lange vor den Hellenen Afrika von Asien trennten. Ja, die Tatsache, daß ausgerechnet ein simples Eiland Asien und Libyen zusammen an Ausmaßen übertroffen haben soll, deutet darauf hin, daß man weder in Asien, noch in Libyen einen Kontinent gesehen hat. Das spricht in der Tat für die Perspektive der Ägypter, für welche die Libyer Nachbarn im Westen gewesen sind, und Asien im Nordosten lag.
Hier gibt es jedoch viel Interpretationsspielraum. Asia wurde oft auch nur auf Kleinasien bezogen, oder gar auf das Gebiet der späteren römischen Provinz dieses Namens. Umgekehrt mag Libyen nur das Gebiet der Libyer gewesen sein, oder aber Afrika nördlich der Sahara. Und spätestens seit der Unternehmung Pharao Nechos II. (siehe Kapitel: Was wußten die Ägypter wirklich?) dürften sich die Vorstellungen von der wahren Größe des Kontinents gewandelt haben.
Nebenbei bemerkt: Für Herodot war die größte Insel noch Sardinien, das er irrtümlich für ausgedehnter als Sizilien hielt. Man mag ihm zugute halten, daß die Vermessungstechnik zu seiner Zeit noch in den Kinderschuhen steckte, und er selbst schließlich auch kein ausgebildeter Geometer war.
Auch die Angabe größer als Asien und Libyen zusammen muß sich damit nicht auf geographisch exakte Daten berufen, wie sie die Ägypter selbst erstmals praktiziert haben sollen. Es kann auch über grobe Längen- und Zeitangaben geschehen sein, die beschreiben, wie lange man braucht, um von A nach B zu kommen. Solche nautischen Berichte kennt die Antike, namentlich die griechischen Seefahrer, aber aus der Vorzeit ist uns nichts Dergleichen überkommen.
Ergo könnte Atlantis also je nach Auslegung die Ausmaße Zyperns, Großbritanniens oder ganz Amerikas gehabt haben. Wenn die Hauptinsel aber nur von einer einzigen Stadt dominiert worden sein soll, kann es mit ihrer Ausdehnung nicht so weit her gewesen sein. Oder die Könige haben eben nur einen Teil des Eilands beherrscht.
Freilich wäre auch eine andere Deutung denkbar: Größer als Asien und Libyen könnte genauso gut bedeuten, daß das Imperium in beiden Regionen Kolonien gehabt hat, das Kerngebiet aber außerhalb davon lag. Platos Angabe, der Machtbereich hätte sich vom Westen her bis Tyrrhenien und an den Nil erstreckt, muß dem nicht widersprechen. Zwar hatte Ägypten zu Zeiten des Philosophen keine Besitzungen in Asien, wohl aber 1000 Jahre vorher. Herodot hielt eine Inschrift der Hethiter am Karabel- Paß in Karien für ägyptisch Nach dem damaligen Kenntnisstand konnte man also durchaus davon ausgehen, daß die Ägypter auch in Kleinasien gewesen sind.
Wenn man allerdings annimmt, daß Atlantis Jahrtausende früher existiert hat, stellt sich die Frage, was man damals unter Asien und Libyen verstanden hat. Der Name Asien rührt möglicherweise von der Assuwa- Koalition her, mit denen die Hethiter im 14. vorchristlichen Jahrhundert. Krieg geführt haben. Namengebend war wohl die Ortschaft Asow im Südwesten der Troas. Aus der selben Zeit stammt auch der Name Libyen, nach einem von mehreren Stämmen, welche die Ägypter um 1200 v. Chr. von Westen her in die Bredouille brachten (Dies steht im Kontext des sogenannten Seevölker- Sturms).
Beide Namen gibt es also erst seit der späten Bronzezeit. Wieso wird ein in der unmittelbaren Nacheiszeit angesiedeltes Imperium ausgerechnet mit so jungen Benennungen in Verbindung gebracht? Gab es vorher andere Namen für Libyen und Asien? Und wenn ja, entsprachen sie den späteren Begriffen einigermaßen genau, oder nur ungefähr? Und wer zum Henker will das alles vermessen haben?
Auch die Auswahl verwundert ein wenig. Asien und Afrika sind Kontinente, Kleinasien und Nordafrika bis zur Sahara aber nicht. Warum ist Atlantis nicht zum Beispiel größer als Skythien und Persien zusammen?
Möglicherweise will Plato die Äußerung aber auch nur als Redewendung verstanden wissen. Herodot hat schließlich auch schon behauptet, Europa wäre größer als Libyen und Asien zusammen, wenn er auch nicht die prägnante Formulierung gebraucht hat, die wir bei Plato finden. Was, wenn größer als Libyen und Asien zusammen nichts weiter als eine Floskel ist, die einfach nur sehr groß bedeutet. Schließlich hat unser Wort Bombastisch auch nichts mit Bomben zu tun, Gewaltig nichts mit Brutalität, und Riesig, Gigantisch und Titanisch nur ab und zu mal mit groß gewachsenen Mitbürgern.
Dann aber wiederum fehlt sich jeder Hinweis darauf, daß diese Wendung im übertragenen Sinne gebraucht worden ist, und zwar sowohl in Platos sonstigen Werken, als auch bei den übrigen Autoren seiner Epoche.
Die Geologie auf jeden Fall weiß von keiner Landmasse im Atlantik, die dereinst die bei dem Philosophen angeführten Ausmaße erreicht hat, und dann ein Opfer der Fluten geworden sein soll.
Kontinentale Krusten unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung (SiAl) grundlegend von ozeanischen (SiMa). Sie sind leichter, was bei Kollisionen dazu führt, daß sich die Letztere unter die Erstere schiebt. Nur in Ausnahmefällen kommt es dazu, daß Teile der ozeanischen Kruste absplittern und kontinentale Bereiche überlagern. Auch sind dies alles sehr langwierige Prozesse, die sich zwar ruckartig (Erdbeben), aber doch im Verlauf von Jahrmillionen abspielen. Daß ein Kontinent so einfach im Meer versinkt, und das auch noch im Verlauf eines schrecklichen Tages und einer schrecklichen Nacht, ist undenkbar.
Atlantis (nun endlich mit Namen genannt [wörtlich eigentlich: Atlas Insel]) war also nicht nur eine gewaltige Kriegsmacht, es war auch in der Lage, Eroberungen zu machen, und diese nicht gleich wieder zu verlieren. Damit muß dessen bewunderungswürdiger Königsherrschaft eine Verwaltung unterstanden haben, die sofort alles unternahm, um die unterjochten Gebiete zu befrieden, und sowohl eine militärische, als auch eine zivile Infrastruktur zu errichten, die eine Anbindung der neuen Provinz ermöglichten.
All dies spricht für eine hoch entwickelte staatliche Organisation, die nichts zu tun hat mit einer steinzeitlichen Subsistenzwirtschaft, wo sich jede Familie praktisch selbst versorgen kann, ja, muß. Denn auf diesem Niveau kann es noch keine ausgeprägten Berufe geben (außer natürlich Jäger, Fischer, Hirte, Bauer und das älteste Gewerbe der Welt), da einen die Notwendigkeit, sich und die seinen mit Nahrung zu versorgen, davon abhält, sich in eine Richtung zu spezialisieren.
Wo es eine Verwaltung und ein schlagkräftiges Heer gibt, da hat die Landwirtschaft solchermaßen Fortschritte gemacht, daß genügend Überschüsse erzielt werden, um auch Leute zu verköstigen, die anderen Aufgaben nachgehen. Es muß Transportmöglichkeiten geben, um die Ernte von dort, wo sie eingefahren wird, dahin zu bringen, wo sie benötigt wird. Schlußendlich muß es gemeinschaftlich genutzte Bauwerke geben, etwa um das abgeführte Getreide zu speichern, oder als Sitz für die Administration.
Außerdem legt es die Eroberung von Inseln und Festland bis Tyrrhenien und Ägypten nahe, daß die gewaltige Kriegsmacht nicht mit Flößen oder Ruderbooten übergesetzt ist. Das heißt, man muß es bereits verstanden haben, Schiffe zu bauen, die ganze Truppenteile transportieren konnten. Das erfordert nicht nur eine Reihe von Zimmer- und Seeleuten, sondern auch eine Tradition von bautechnischem und nautischem Wissen.
Und das alles soll es 9600 v. Chr. schon gegeben haben!
Nebenbei bemerkt, werden auch hier Europa und Libyen als einander gleichberechtigt, also wohl doch als Kontinente angesehen.
Atlantis wird von Königen regiert, und zwar von mehreren (was als Parallele zu den 30 Tyrannen Athens gesehen werden kann). Eine Monarchie aber setzt eine gewisse gesellschaftliche Ordnung und Konsolidierung voraus, die über diejenige umherstreifender Jäger und Sammler hinausgeht. Das Gleiche gilt für die Gründung einer Stadt, insbesondere einer Metropole, und dem Grundriß zufolge ist Atlantis auch noch planmäßig angelegt worden.
Aber auch die Gegner haben schon einen vergleichbaren Grad an Organisation erreicht. So hat sich zur Abwehr des Feindes ganz Griechenland zur Abwehr zusammengeschlossen Es wird also vorausgesetzt, daß hier Territorien beherrscht worden sind, die Ur- Griechen also seßhaft gewesen sind. Hinzu kommt, daß Plato von Athen schreibt und nicht von Attika: Er geht also davon aus, daß es auch diesen Ort schon gegeben hat. Und daß er explizit den Staat Athen anführt, macht klar, daß er bereits von einem seiner Politeia entsprechenden Herrschaftssystem ausgeht, inklusive einer Differenzierung der Bürger in Arbeiter, Krieger und Herrscher. Selbst zu seiner Zeit war eine entsprechende gesellschaftliche Schichtung und Spezialisierung längst nicht bei allen Völkern der Fall.
Die Athener also als Befreier der Welt! Hallelujah! Lasset uns preisen die Göttlichkeit dieser Stadt, die wir Unwürdigen nicht wert sind, auch nur aus dem Staub heraus zu betrachten!
Hätte Plato stattdessen ein Volk genannt, mit dem er nichts zu tun gehabt hat, wäre er glaubwürdiger gewesen. Freilich hätte ein Werk, in dem die Meder oder Skythen die Erde retten, kaum die nötige Popularität in Griechenland erlangt. Und wer als Philosoph erfolgreich sein wollte, mußte eben bei den Hellenen ankommen.
Aber aller Polemik zum Trotz gab es tatsächlich einmal eine Zeit, in der Athen nahezu im Alleingang die Freiheit Griechenlands bewahrt hat, nämlich in zwei Abschnitten der Perserkriege. In der Landschlacht bei Marathon schlug es den übermächtigen Feind ebenso ohne fremde Hilfe, wie später in der Seeschlacht bei Salamis.
Schon oft ist überlegt worden, ob der Atlantis- Mythos ein Gleichnis für eben diese Ära hat sein sollen. Doch wo das Bild im Groben stimmig sein mag, da paßt es im Detail ganz und gar nicht. Athen war eine Demokratie und Seemacht, Persien eine tyrannische Monarchie und Landmacht im fernen Osten. Ur- Athen aber soll eine Platokratie gewesen sein, deren Soldaten überwiegend mit Spieß und Schild, also zu Lande kämpften. Und Atlantis eine auf dem Bündnis mehrerer Herrscher fußende Monarchie und Seemacht im fernen Westen. Die tiefergehenden Unterschiede dürften einleuchten, wenn wir im Text fortfahren, so daß ich sie an dieser Stelle nicht aufliste.
Aber eines bleibt noch anzufügen: Plato ist nicht der Erste, der die Praxistauglichkeit einer Verfassung daran mißt, wie sie sich im Kriegsfall bewährt hat. Schon Herodot hat über Athen geschrieben: Das bürgerliche Recht des freien Wortes für alle ist eben in jeder Hinsicht, wie es sich zeigt, etwas Wertvolles. Denn als die Athener von Tyrannen beherrscht wurden, waren sie keinem einzigen ihrer Nachbarn im Kriege überlegen; jetzt aber, wo sie frei von Tyrannen waren, standen sie weitaus an der Spitze. Daraus ersieht man, daß sie als Untertanen, wo sie sich für ihren Gebieter mühten, sich absichtlich feige und träge zeigten, während jetzt nach ihrer Befreiung ein jeder eifrig für sich selbst schaffte.
Herodots Werke gehörten in Platos Ära zum Grundwissen der gebildeteren Kreise. Das Athen der Perserkriege hatte als Demokratie gegen die Übermacht der Perser gesiegt. Wenn Plato die Praxistauglichkeit seiner Politeia herausstellen wollte, mußte sie der Demokratie überlegen sein, also mindestens einen ähnlichen Triumph vorweisen können, wie die Abwehr der Perser. Deren Rolle übernehmen die Atlanter.
Freilich waren die Perser keine Erfindung Herodots. Genauso wenig hat Livius die Karthager ersonnen, auch wenn er sie als Gegenpol benutzt, um die altehrwürdigen Tugenden der Römer zu beschwören. Wenn sich also die Atlanter ganz gut in das Gedankengebäude Platos einfügen, dann heißt das nicht automatisch, daß sie diesem auch entsprungen sein müssen.
Ja, es braucht natürlich eine Erklärung, warum man ausgerechnet die in allen Stücken ausgezeichnetste Verfassung nicht beibehalten hat. Eroberung durch einen Feind kommt nicht in Frage, denn am Beispiel Atlantis hat man ja gesehen, daß dieses System gerade die Wehrhaftigkeit der Bürger zur Folge haben soll. Unruhen und Aufstände darf es auch nicht gegeben haben, denn das hätte ja bedeutet, das nicht jeder mit der idealen Staatsform einverstanden gewesen wäre Und das war für Plato selbstverständlich undenkbar!
Also bietet sich die Naturkatastrophe an, im Kontext der zyklisch wiederkehrenden Kataklysmen, die kein Schriftkundiger überlebt.
Das Gleiche gilt für Atlantis, und der aufgehäufte Schlamm soll das Meer nun unfahrbar und undurchforschbar machen. Müssen wir uns diesen Teil des Atlantiks nun als riesige Matschpfütze vorstellen? Wohl eher nicht, denn selbst die trübsten Moore sind immer noch schiffbar. Eher schon kann man sich denken, daß hier ein schlickiges Wattenmeer beschrieben wird. Und da geht bei jeder Flut Land unter! Die Hellenen hatten als Anrainer des Mittelmeeres keine Ahnung von den Gezeiten, so daß ihnen dieses Phänomen gewiß nicht so recht geheuer gewesen ist.
Hinzu kommen natürlich die Karthager, die keine neugierigen Griechen in ihren Gewässern haben wollten. Die streuten gezielt Gerüchte von Seeungeheuern und Strudeln, verbreiteten aber auch die Mär, daß das Wasser jenseits von Gibraltar immer zäher würde. Da sie ihren Einflußbereich eifersüchtig überwachten, gab es kaum jemanden, der etwas anderes behaupten konnte. Also fand ihre Propaganda auch Eingang in die Schriften der Gelehrten (so z. B. bei Herodot).
Man sagt, im hohen Alter habe man zwar Probleme damit, sich an den vergangenen Tag zu erinnern, doch dafür hätte man lange zurückliegende Kindheitserinnerungen wieder deutlich im Gedächtnis. Auf diese Weise versucht auch Plato zu erklären, warum Kritias bis ins Detail wiedergeben konnte, was er mal als Zehnjähriger gehört hatte. Dabei scheint er seit damals kein Wort mehr darüber verloren zu haben (Sonst hätten Sokrates und Timaios die Geschichte schon vorher in ihre Überlegungen mit eingebaut), ja, selbst als das Thema am Vortag angeschnitten worden ist, hat er darüber Stillschweigen bewahrt. Mag sein, daß es die Geschichte da auch noch nicht gegeben hat. Erst, nachdem er eine ganze Nacht (schlaflos oder mit besonders farbigen Träumen?) damit verbracht hat, sich aller entfallenen Fakten zu entsinnen, fühlte er sich bereit, von der untergegangenen Insel zu erzählen.
Vielleicht hat Plato eine ähnliche Ausrede verwendet, als man ihn gefragt hat, warum er das Atlantis- Beispiel in seiner Politeia niemals erwähnt hat, obwohl er damit die Praxis- Tauglichkeit seines Modells hätte propagieren können.
Etwas befremdlich ist es allerdings, daß Kritias bereits am Vorabend einiges über Atlantis zu berichten gewußt hat, und sich doch erst im Bett hin und her wälzen mußte, um sich genügend Fakten für die Erzählung am nächsten Tag einfallen zu lassen.
Hier macht es ganz den Eindruck, als wolle Plato seinen Onkel Kritias nicht nur vor den eigenen Karren spannen, sondern auch dessen Politik rehabilitieren (und somit eventuell seine Chancen auf eine entsprechende Laufbahn wieder verbessern). Kritias hatte den schlimmsten Ruf unter den dreißig Tyrannen Athens gehabt. Sein Neffe aber behauptet in diesem Abschnitt, er habe lediglich den Idealstaat nach prähistorischem Vorbild errichten wollen.
Freilich vermeidet es der Philosoph, direkt auf die Vorwürfe zu sprechen zu kommen, die Kritias gemacht worden sind. Oder gar, sie als notwendiges Übel bei der Verwirklichung seiner Verfassung zu rechtfertigen. Damit nämlich hätte er sich und seinen Überlegungen weit mehr geschadet, als genutzt.
Oder in erweiterter Deutung: Wenn man die Sage vom Ur- Athen für wahr hält, dann ist auch die Praxis- Tauglichkeit der Politeia kein bloß erdichtetes Märchen, sondern eine wahre Geschichte.
Von besonderer Relevanz ist an dieser Stelle Sokrates Äußerung, es handele sich bei der Geschichte von Ur- Athen und Atlantis um kein bloß erdichtetes Märchen, sondern eine wahre Geschichte. Auch an anderen Stellen wird sie als Logos bezeichnet, und nicht als Mythos. Wo Plato in anderen seiner Werke Fallbeispiele ersinnt, um seine Überlegungen allegorisch zu verdeutlichen, da macht er keinen Hehl daraus, daß es sich um bloße Gedankenkonstrukte handelt. Die Atlantis- Legende aber behandelt er wie eine Tatsache.
Ab hier widmet sich Plato dem eigentlichen Thema der Timaios, nämlich der Kosmologie, die mit unserem Thema jedoch nicht mehr viel zu tun hat.
Das Eiland im fernen Westen allerdings hat ihn nicht mehr losgelassen. Vielleicht hat das Einsprengsel im gerade wiedergegebenen Dialog nicht ganz die erhoffte Wirkung gehabt, vielleicht aber hat man ihn auch nur um mehr Details gebeten. Auf jeden Fall hat er sich noch einmal eingehender mit jenem Inselkönigreich befaßt, nämlich in den Abschnitten der nun folgenden Kritias: