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Die Bewandtnis mit Atlantis: 5. Die Interpretation - Die Skeptiker (oder Leugner?)

Die Bewandtnis mit Atlantis5. Die Interpretation
Die Skeptiker (oder Leugner?)

Schlußendlich haben wir noch die vierte Richtung, die Platos Ausführungen ganz und gar ins Reich der Fiktion verweist. Die Werke der Antike sind zumeist nicht mit der Absicht verfaßt worden, einfach nur nüchtern Ereignisse festzuhalten. Die alten Ägypter dokumentierten lediglich, was sich irgendwie mit der Verehrung des Pharaos und der Götter verknüpfen ließ. Homer verdiente sich mit seinen Gesängen an Fürstenhöfen den Lebensunterhalt, so daß möglichst viel Spannung und Anbiederung auch den Bauch gut füllte.

 

Herodots Motive dürften recht ähnliche gewesen sein. Und die Römer schließlich liebten es zu moralisieren, in dem sie Fakten und Begebenheiten gerne so ausschmückten und verdrehten, daß daraus ein Gleichnis über Gut und Böse wurde. So muß man schon sehr kritisch zwischen den Zeilen lesen, um beispielsweise herauszufinden, daß das ach so ehrliche, gerechte und ehrenwerte Volk am Tiber eigentlich Schuld an allen drei Punischen Kriegen gewesen ist.

Dementsprechend lassen sich auch die Kritias und die Atlantis- Passage der Timaios als Gleichnis für ein „gutes“ und ein „böses“ Athen interpretieren. Die Kultur des Inselreiches ist der griechischen sehr ähnlich. Ja, man kann sogar ein paar Anspielungen auf den Attischen Seebund herauslesen, der nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg zerschlagen worden ist. Dessen Hauptstadt Athen wurde auf Druck des Siegers Sparta von einer Oligarchie regiert, den sogenannten „30 Tyrannen“. Da ist es gewiß kein Zufall, daß just einer der Berüchtigsten von ihnen, Platos Onkel Kritias, die Geschichte von dem versunkenen Eiland erzählt. So läßt sich der Bericht auch als ein Vergleich zwischen einem idealen und einem „von den Göttern abgefallenen“ Athen interpretieren.

Die Skeptiker beziehen sich dabei auf Platos Politeia, denn die Atlantis- Passagen im Timaios stehen im Kontext einer ihrer einstigen Verwirklichung. Die Kritias stellt dann die genauere Beschreibung der zuvor umrissenen Kulturen dar. Daß im letztgenannten Werk nur noch am Rande von der „idealen“ Gesellschaftsordnung die Rede ist, fällt dabei kaum ins Gewicht, dient es doch im wesentlichen der genaueren Erläuterung dessen, was im Timaios angerissen worden ist.

Schließlich ist Plato Philosoph gewesen, und hat sich – abgesehen von den besagten Dialogen – nicht mit der Geschichtsschreibung befaßt. Aber auch er hat sich nicht nur mit der hehren Philosophie befaßt; seine Frühwerke, Apologie und Kriton, beschäftigen sich mit der Verteidigung des Sokrates. Außerdem hat er sich auch immer wieder für die Realpolitik interessiert.

Und dann ist da noch seine Versicherung, es handele sich um „kein bloß erdichtetes Märchen, sondern eine wahre Geschichte“. Wer also die Atlantis- Legende von vorne herein als Erfindung abtut, bezichtigt ihn damit der Lüge.

Wenn Plato sein ozeanisches Imperium nur erfunden hat, stellt sich die Frage, warum er einen bereits anderweitig benutzten Namen („Atalante“) verwendet, und so das Risiko eingeht, daß ihn jemand auf die Widersprüche zu Herodot aufmerksam macht. Auch läßt er den Riesen Atlas eine andere Rolle spielen, als es uns die griechische Mythologie lehrt. Mag sein, daß er seiner Legende einen pseudo- realen Anstrich verpassen wollte, indem er sein Inselkönigreich mit bereits bekannten Begriffen in Verbindung brachte. Doch hätte er den Weg eingeschlagen, den viel später Thomas Morus mit seinem frei erfundenen Utopia beschritten hat, wäre es nicht so leicht gewesen, ihn der Geschichtsklitterung zu bezichtigen. Wo es keine anderen Quellen gibt, gibt es auch niemanden, auf den man sich berufen kann, um ihn der Lüge zu überführen.

Und gerade die Glaubhaftigkeit ist es ja, auf die er wert legt, geht es doch in der Kritias und der Timaios nicht um ein theoretisches Konstrukt, so wie in der Politeia, sondern um deren zumindest vorgeblich reale Umsetzung.

Immerhin verwendet er aber den Trick, die Ereignisse in eine graue Vorzeit zu verlegen, die noch länger zurückliegt als die Sintflut. Da die schriftliche Überlieferung in Griechenland erst mit Homer und Hesiod einsetzt, braucht er damit von dieser Seite her keine Einwände zu befürchten. Er selbst beruft sich auf die Ägypter, die seinerzeit schon als alt, und damit als Garant für anderswo vergessenes Wissen galten. Freilich lebten zu seiner Zeit schon seit drei Jahrhunderten Griechen im Nildelta, die ohne weiteres seine Angaben hätten überprüfen können. Und er war durchaus umstritten! Der Kyniker Antisthenes etwa (Siehe oben im Kapitel über Plato) bezog offen gegen ihn Stellung. Die Gelegenheit, ihn als Geschichtsfälscher zu entlarven, hätte gewiß nicht nur ihn gereizt.

Sollte es diese ägyptischen Schriften jemals gegeben haben, auf uns sind sie nicht überkommen. Vielleicht gingen sie verloren beim Brand der Bibliothek von Alexandria, vielleicht hat sie der Zahn der Zeit anderweitig auf dem Gewissen, auf jeden Fall kennen wir jenseits von Plato noch nicht einmal Auszüge, die sich auf ein in Frage kommendes Werk beziehen. Gewiß, auch Herodot ist in Saïs gewesen, wie übrigens auch die Scherben zweier Opferkrüge mit seinem Namen belegen. Und auch er hat sich dort mit einem Priester unterhalten… nur war es eben kein Staatsbesuch, wie im Falle von Solon, sondern eine von seinen Kneipenplaudereien. Und er hatte auch nichts über die große Geschichte des Landes wissen wollen, sondern wo die Quellen des Nils lagen.

Aber noch eine weitere Frage sticht ins Auge: Sollte Plato abseits der praktischen Anwendung seiner Politeia einfach nur die Absicht verfolgt haben, den Untergang eines Volkes zu schildern, das vom göttlichen Wege abgekommen ist, warum hat er dann keines genommen, mit dem seine Zeitgenossen etwas anfangen konnten? Warum nicht die Lyder, wo die Hybris ihres letzten Herrschers Kroisos (Krösus) gar den oben erwähnten Herodot beschäftigt hat? Warum nicht die Trojaner, deren Könige den Sagen zufolge eine ähnliche Abkehr von dem göttlichen Erbe vollzogen? Warum nicht die Perser, die aller Macht und Herrlichkeit zum Trotz nicht das kleine Griechenland besiegen konnten? Oder den legendären König Minos von Kreta, der ein so unrühmliches Ende fand?

Nun könnte man mutmaßen, Plato hätte ein Utopia schildern wollen, mit dem es natürlich kein reales Vorbild aufnehmen kann. Hier verwundert es dann aber doch ein bißchen, daß er Atlantis gleich in zwei Dialogen vorkommen läßt, der Timaios und der Kritias, statt sich jedesmal ein neues, speziell auf das Thema zugeschnittenes Zauberland auszudenken. Und dann wiederum beschreibt er die Atlanter als eine Zivilisation, die der griechischen vergleichbar ist. Es kommen keine Wundermaschinen zum Einsatz, keine göttlichen Gaben oder Segnungen erleichtern den Arbeitsalltag und auch von Magie oder Orakelkünsten ist nirgends die Rede. Dafür wird Seehandel betrieben, Ackerbau, Erzförderung und Metallverarbeitung – Nichts, was in der antiken Welt als außergewöhnlich gegolten hätte. Lediglich ein paar Angaben zu Geographie, Architektur und der einheimischen Fauna lassen erkennen, daß hier nicht der Attische Seebund oder das bronzezeitliche Keftiu/ Caphtor als Vorlage gedient hat.

Doch mag er der Phantasie auch hier und da ein wenig Freiraum gegeben haben, die bloße Anhäufung vieler Details läßt berechtigte Zweifel aufkommen, daß er sie samt und sonders erfunden haben soll. Da ist die Rede davon, daß die Griechen einmal eine Schrift gehabt haben, sie dann verloren, und erst nach Jahrhunderten eine neue erwarben. Noch in den 1950‘er Jahren war diese Tatsache unbekannt; außer Plato hatte keiner der Weisen des Altertums etwas davon gewußt. Desweiteren schreibt er, die Atlanter hätten einem Stierkult gefrönt. Im Neolithikum und in der Bronzezeit wurden überall Bullen verehrt, aber in seiner Epoche war das längst schon graue und vergessene Vorzeit. Etwas Ähnliches läßt sich von den Erdwerken sagen, deren typischen Grundriß er für seine Inselmetropole benutzt: In seiner Ära baute niemand mehr bewohnbare Kalender. Auch weiß der Philosoph von Streitwagen- Kontingenten, wie sie gegen Ende der Bronzezeit den Stolz der Truppe ausgemacht hatten – In der klassischen Antike waren sie längst der Vergessenheit anheim gefallen. Geradezu gespenstisch wird es bei der Erwähnung eines „ganzen gegenüberliegenden Festlandes, welches jenes recht eigentlich so zu nennende Meer (den Atlantik) umschließt“.

Wenn Plato so viele Dinge erwähnt, von deren einstige Existenz er eigentlich gar keine Ahnung haben dürfte, ist es da wirklich noch wahrscheinlich, daß er sich das alles nur ausgedacht hat? Zumal sich sein Kritias- Dialog ja nur noch am Rande mit der Staatsverfassung beschäftigt, also gar nicht in erster Linie zur Bekräftigung der Politeia dient! Ihr Zweck scheint es vielmehr, Staat und Kultur von Ur- Athen und vor allem von Atlantis zu schildern. Dabei ist die Fülle an Einzelheiten absolut nicht notwendig, um eine simple Moral über Gut und Böse, über Richtig und Falsch zu stricken.

Aber das alles wird von vielen etablierten Geistesgrößen gar nicht erst zur Kenntnis genommen, frei nach dem Motto: Was ich nicht sehe, das ist auch nicht da.

Als 1982 die Grünen zum ersten Mal in den Bundestag eingezogen sind, hat der damals frisch gekürte Innenminister, Friedrich Zimmermann (CSU), allen Ernstes gefordert, einen Krawattenzwang für das Parlament einzuführen. Dies mag deutlich machen, daß es auch in der Gegenwart noch viele Menschen gibt, die Seriosität mehr an der äußeren Erscheinung festmachen, als an den Inhalten.

Dies gilt auch für akademische Titel. Hat jemand erst einmal einen entsprechenden Ruf – sei es aus eigenem Verdienst, sei es durch Beziehungen, Protegierung oder elterlichem Erbe – kann er davon ausgehen, daß sich andere in seinem Licht sonnen, und seine Lehren nachbeten werden. Ja, wenn man als Magistrand, Diplomand oder Doktorand seinen Abschluß schaffen will, muß die Vorgaben seines Magister-/ Diplom-/ Doktorvaters erfüllen. So hat das, was im Mantel ernsthafter Forschung daherkommt, tatsächlich mehr kultischen Charakter.

Manch ach so seriöse Koryphäe weigert sich mit eigentlich schon religiöser Vehemenz dagegen, überhaupt einen Gedanken an Platos Inselreich zu verschwenden, und stellt sich damit auf eine Stufe mit all jenen Atlantis- Jüngern, die sämtliche störenden Lehrmeinungen über Bord schmeißen, um quasi als auserwählte Jünger ihrem Glauben frönen zu können. Wissenschaft allerdings ist immer ein Schnappschuß des momentanen Kenntnisstandes, aber niemals der Weisheit letzter Schluß. Jede Erkenntnis ist abhängig von den Ausgangsmaterialien, seien es Funde, seien es Schriftstücke, die man wie ein Puzzle zu einem größeren Kontext zusammensetzt. Da mag sich der eine Fund aber als Fälschung herausstellen, und da mag andererseits eine neue Entdeckung sämtliche zuvor geltenden Schlußfolgerungen über den Haufen werfen. Somit handelt es sich bei der Geschichte der Forschung mehr um einen dynamischen Prozeß, denn um die Errichtung eines „Hauses der Erkenntnis“, wo man getrost auf die unverrückbaren Fundamente und Steinlagen seiner Vorgänger aufbauen kann. Wer es dennoch tut, zieht kein „Haus der Erkenntnis“ in die Höhe, sondern einen Elfenbeinturm zu Babel. Lehre soll verbinden durch Wissen, nicht trennen durch Profilneurosen. „Heuschrecken“ braucht es auf dem Gebiet des Bildungswesens genauso wenig, wie in der Wirtschaft.

 

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