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HORROR EXPERT 15 – Gas

Horror ExpertGas

Erber und Luther – zwei Namen, die aus der Geschichte der phantastischen Literatur in Deutschland nicht wegzudenken sind und noch heute Anlass zur Kontroverse bieten. Die Reihe »Horror expert« war Vorreiter auf dem Taschenbuchmarkt und machte den interessierten Leser mit einem Genre bekannt, das hierzulande erst in den Anfängen steckte.

Das lohnt einen näheren Blick auf eine ziemlich in Vergessenheit geratene Reihe.

GasGas
von Marc Agapit
Horror expert Nr. 15
Übersetzt von Ellen Ehlers
1972
Luther Verlag
Was passiert?
Louis Quintorze erwacht in der Metro. Bestürzt stellt er fest, dass er das Gedächtnis verloren hat. Er weiß – zu diesem Zeitpunkt – nicht einmal, wie er heißt. Er hat keine Papiere, kein Geld. Im Waggon sind ein paar üble Typen, die ihn abfällig als "Bürger" bezeichnen.

Quintorze steigt aus. Auf der Straße wird er gleich von einem Polizisten in roter Uniform beschattet, der mit seiner Pistole auf ihn zu zielen scheint. Quintorze ist zwar beunruhigt, tut das aber als Zufall ab und geht weiter. Er verzieht sich auf einen Rummelplatz, wird aber weiterhin von dem Polizisten verfolgt. Er versteht das alles nicht. Gelegentlich riecht er Gas, was er sich auch nicht wirklich erklären kann.

Auf dem Rummel begegnet ihm eine Frau, die ihn beim Namen nennt. Er erfährt, dass er Kinder hat. Er lässt sich von ihr einladen. In der Kneipe bemerkt er ein großes Plakat, auf dem "Das Neue Gesetz" öffentlich bekannt gemacht wird. Er weiß nichts davon. Der Wirt wirft ihn raus. Er bezeichnet ihn als Gejagten. Quintorze versteht die Welt nicht mehr, die Bekannte ergreift die Flucht, als sie das erfährt. Als wärer er aussätzig.

Draußen auf der Straße wird er wieder von den Polizisten verfolgt. Er gerät in Panik. Auf einem weiteren Plakat liest er wieder von dem Neuen Gesetz. Trotz seines Gedächtnisverlustes erkennt er, dass es völlig absurd ist. Es besagt, dass kein Verbrecher verhaftet werden darf und alle Inhaftierten aus dem Gefängnis zu entlassen sind. Ganz egal, was sie getan haben.

Daneben entdeckt er eine Liste mit Personen, die zu Volksfeinden erklärt wurden. Sein Name befindet sich auf der Liste. Wieder taucht der Polizist auf. Quintorze will entnervt auf ihn losgehen, aber ein Passant hält ihn davon ab und nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Der Mann heißt Viktor und erklärt Quintorze die Hintergründe.

Nach langen Debatten hat man die eigentlich ironisch gemeint Idee des Dramatikers George Bernard Shaw in die Realität umgesetzt. Shaw meinte, dass Gefängnisse niemanden etwas nützen, dort werden Verbrecher nur zu besseren Verbrechern erzogen. Also hat man die Strafen abgeschafft und die Gefängnisse geleert. Um aber Anarchie und Lynchjustiz zu verhindern, wurde ein Punktesystem eingeführt. Für den kleinsten Gesetzesverstoß erhält der Betroffene Punkte. Hat er zwölf Punkte zusammen, kann ihn die Polizei beim kleinsten Vorfall einfach erschießen. Dazu reicht dann aber auch schon, bei Rot über die Straße zu gehen. Bekannte Straftäter werden also rund um die Uhr von der Polizei beschattet und damit letztlich so lange provoziert, bis sie durchdrehen. Dann hat die Polizei den Vorwand, denjenigen auf der Stelle hinzurichten.
Quintorze ist entsetzt, vor allem, da er sich nicht mehr daran erinnern kann, was er sich angeblich hat zu Schulden kommen lassen. Viktor stellt sich als Beamter heraus. Straftäter haben die Möglichkeit, Punkte zurückkaufen zu können. Dafür müssen sie nur an lebensbedrohlichen Experimenten teilnehmen. Sollten sie es überleben, werden Punkte gestrichen und sie erhalten eine Bezahlung, von der sie eine Weile leben können. Denn schließlich stellt ja niemand einen Kriminellen ein, erst recht keinen, der von der Polizei drangsaliert wird. Viktor bietet Quintorze an, ihm ein Experiment zu vermitteln.

Empört weist Quintorze, der sich mittlerweile als ausgesprochen unsympathischer Charakter entpuppt hat, das alles zurück. Aber nach einer beinahe tödlichen Begegnung mit der Polizei ergibt er sich in sein Schicksal. Er stellt sich den Behörden. Dabei erfährt er, dass man ihm Ladendiebstahl, die Misshandlung seiner vier Kinder, Trunkenheit und Beamtenbeleidigung zur Last legt. Da er alle Vorladungen ignorierte, hatte er im Handumdrehen die besagten zwölf Punkte zusammen.

Quintorze ist entsetzt. Denn sein Gedächtnisverlust interessiert niemanden. Die einzige Chance für den mittellosen Mann ist das medizinische Experiment, bei dem er mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit sterben wird. Entmutigt willigt er ein. Man verfrachtet ihn in eine Klinik und unterzieht ihn einem bizarren Experiment. Er überlebt und bekommt eine große Summe Bargeld.

Von einem Hochgefühl ergriffen kehrt er zurück zum Rummelplatz und betrinkt sich erst einmal. Dabei wird er dann von einer jungen Prostituierten ausgeraubt, die ihn genau davor gewarnt hat. Nach kurzer Zeit – anscheinend ist es noch immer dieselbe Nacht – ist er wieder völlig mittellos. Alles war umsonst. Da erhält er Kontakt zu seiner
Schwägerin. Es ist offensichtlich, dass sie ihn verachtet. Trotzdem gibt sie ihm etwas zu essen. Dann rechnet sie in dem Wissen, dass die Polizei vor der Tür steht und sie sicher ist, mit dem Mann ab. Sie wirft ihm vor, wie er ihre Schwester misshandelt und ausgenutzt hat; sie musste schuften und vier Kinder zur Welt bringen, während er sie ständig schlug und mit anderen Frauen betrog. Gearbeitet hat er nicht. Irgendwann ist sie dann gestorben, nachdem er alles Geld durchgebracht hat und die Familie in den Slums gelandet ist. Die Frau starb an Entkräftung und Hunger, da er sämtliche Stütze versoffen hat. Seine vier Kinder, Zwillinge und zwei Söhne, die zwischen zwölf und sechzehn Jahre alt sind, hat er ebenfalls vernachlässigt und jeder Chance beraubt.

Quintorze hält das alles für böswillige Übertreibungen. Die Schwägerin fleht ihn an, ihr die Kinder zu überlassen. Nach dem Neuen Gesetz kann man Eltern die Kinder nicht mehr wegnehmen, egal wie die Umstände sind. Sie können sie nur freiwillig weggeben. Aber Quintorze verspürt nun so einen Hass auf die Frau, dass er sich weigert. Obwohl ihm das bei seinen Punkten erneut helfen würde. Die Frau beschuldigt ihn der Kindesmisshandlung; er hat seine Söhne dazu gezwungen, ihm die Füße sauber zu lecken, den Jüngsten hat er sexuell missbraucht, dann wollte er ihn auf dem Rummelplatz den Schaustellern verkaufen.

Quintorze ist außer sich. Er glaubt kein Wort und stürmt hinaus, verfolgt von dem Polizisten mit dem Revolver. Jetzt steht er wieder auf der Straße. Er kommt auf die Idee, zurück zum Rummelplatz zu gehen, wo das Plakat mit den aufgelisteten Volksfeinden klebte. Dort stand auch seine Adresse. Irgendwo muss er ja hin.

Auf dem Rummel wird er von einem Schausteller angesprochen, der ihn fragt, ob das Geschäft mit seinem Sohn Philip noch gültig ist. Also war der Verkauf des Jungen wohl die Wahrheit. Quintorze ist begeistert. Ein Ausweg. Geld zum überleben. Er will den Jungen sofort holen. Aber der Weg  zu seiner Adresse ist so schrecklich weit. Nach weiteren Zwischenfällen schleppt er sich nach Hause. Unterwegs überfällt ihn wieder der eklige Gasgestank, wie so oft in dieser schrecklichen Nacht.

Als er endlich vor dem Haus steht, kehren plötzlich die Erinnerungen zurück. Er hat den Gashahn aufgedreht, um seine Kinder umzubringen und endlich frei zu sein. Dann ist er aus dem Haus gegangen. Mit der nun intakten Erinnerung kämpft er sich durch den Gastgestank in seine Wohnung. Aber dort entdeckt er zu seiner Verblüffung, dass der Gashahn zu und ein Fenster geöffnet steht. Anscheinend hat er sich den Gestank erneut nur eingebildet. Sein Plan ist gescheitert, weil einer der Söhne den Hahn geschlossen haben muss. Auf dem Tisch liegt noch der Zettel, den er als Alibi geschrieben hatte und auf dem er die Kinder anweist, aufs Gas zu achten.

Er weckt Philipp, den jüngsten, dreht den Gashahn wieder auf und bringt den Jungen zum Rummelplatz. Aber alles geht schief. Unverrichteter Dinge muss er mit dem Jungen zurückkehren. Als er ihn unterwegs aus Frust schlagen will, steht sofort der Polizist mit der Waffe da, und Quintorze lässt es sein.

Mit letzter Kraft schleppt er sich nach Hause. Aber wieder ist der Mordanschlag gescheitert; das Gas ist zu, das Fenster geöffnet. Er bringt Philipp zu Bett, dann dreht er das Gas erneut auf und legt sich hin, um nun ebenfalls zu sterben. Er kann nicht mehr. Aber es geht schief. Er wacht auf, der Gashahn ist geschlossen. Außer sich vor Zorn erwürgt er den Ältesten, dann die Zwillinge. Zuletzt kommt Philipp dran. Dann steht die Polizei in der Tür und schießt.

Louis Quintorze erwacht in der Metro. Bestürzt stellt er fest, dass er das Gedächtnis verloren hat. Im Waggon sind ein paar üble Typen, die ihn begrüßen, weil er wieder da ist. Es stinkt fürchterlich nach Gas. Plötzlich ist die Erinnerung kurz wieder da. Er hat seine Kinder in der realen Welt umgebracht und ist dafür nach dem Prozeß hingerichtet worden. Jetzt ist er in dieser Hölle und wird alles immer wieder erleben, ohne Hoffnung auf Erlösung.

Worum geht es?
Nach dem schlechten Gothic des Vormonats präsentierte Horror expert mit diesem Roman wieder einen der Franzosen aus Fleuve noirs Gruselreihe "Angoisse", die deutschen Freunden des Genres vermutlich vor allem aus den ersten Vampir Horror Romanen von Pabel bekannt sein dürfte. Ein Roman, der den damaligen Leser, der gepflegte Gruselunterhaltung suchte und dem Horror expert noch nicht die Treue gekündigt hatte, vermutlich auch eher konsterniert zurückließ. Wenn auch sicher aus anderen Gründen als bei dem vorherigen Langweiler.

La Maison du RobotMarc Agapit war mit 43 Romanen einer der Eckpfeiler von "Angoisse". Hinter dem Pseudonym steckt Adrien Sobra, der 1897 im Dorf Néfiach zur Welt kam. Nach dem Studium in Paris versuchte sich Sobra in den 1920ern als Romanautor und Bühnenautor. Und scheiterte auf der ganzen Linie. Daraufhin schlug er die Schullaufbahn ein und arbeitete als Englischlehrer, unter anderem in Algerien. Die Schriftstellerei ließ ihn aber nie ganz los. Mitte der 30er Jahre verfasste er ein paar Krimis für den Pulpverleger Ferenczi unter dem Pseudonym Ange Arbos; ein wohl mit Herzensblut geschriebener Roman, "Le Valet", den er 1949 unter seinem Namen veröffentlichte, war ein Misserfolg.

Über Sobras Leben ist nicht viel bekannt. Der ewige Junggeselle lebte mit seiner Mutter zusammen in einem Vorort von Paris. 1949 ging er wegen "Gesundheitsproblemen" mit 52 in den Ruhestand. Nach dem Tod der Mutter zog er nach Nizza, wo er bis zu seinem Tod 1985 zurückgezogen und allein lebte. Für ihn erwies sich der Start von "Angoisse" 1954 als die literarische Bühne, auf die er scheinbar immer gewartet hatte.

Le Poids du MondeDie Reihe "Angoisse" des großen Publikumsverlags Fleuve noir – der im übernächsten Beitrag kurz vorgestellt werden wird - hatte sich der Phantastik und dem Grusel verschrieben. Bis zur Einstellung 1974 erschienen dort 261 Romane. Verglichen mit anderen Reihen des Verlags wie dem SF-Imprint "Anticipation" mit seinen 2001 Romanen ist das allerdings wenig. Nach ein paar Übersetzungen aus dem Englischen – die Reihe startete mit Donald Wandreis "The Web of Easter Island", kurz gefolgt von Evangeline Waltons "Witch House" (Vampir Horror Tb. 7) - setzte der Verlag allein auf seine Hausautoren, die sonst Krimis oder SF schrieben.

"Angoisse" hatte wohl das Problem, dass nur wenige Autoren eine Neigung zu diesem Genre hatten. Von Autoren wie G.J.Arnaud und anderen ist überliefert, dass sie sich mit dem Thema schwertaten; Arnaud, der über 400 Romane schrieb, steuerte gerade mal 4 Bände bei, das Gleiche gilt für Peter Randa, der sich bei SF, Abenteuer und Krimi mit einigen Hundert Veröffentlichungen deutlich berufener fühlte und gerade mal 5 Bände in der Phantastikreihe veröffentlichte. "Angoisse" hatte immer das Problem, seine Programmplätze zu füllen. Wirklich Eigenständiges kam selten zustande, erst recht nicht in der ausreichenden Quantität. Die Verkäufe waren vergleichsweise schwach. Wo Fleuve noirs Krimis Mitte der 60er im Durchschnitt 100000 Exemplare und mehr umsetzten und die SF-Reihe noch 15000 Exemplare schaffte, kam "Angoisse" gerade mal auf 6000 Exemplare. Die Reihe verkaufte sich also deutlich schlechter als die anderen Reihen von FN – wohl ein weiterer Grund für den mangelnden Enthusiasmus einiger Autoren, die lieber die durch die Tantiemen lukrativeren Krimis schrieben.

Viele der Angoisse-Autoren ahmten größtenteils die angloamerikanischen Vorbilder nach. Es gab Spukhäuser, Geister und verrückte Wissenschaftler an außereuropäischen Schauplätzen. In den 60ern versuchte man es mit eher actionbetonten Serien wie "Madame Atomos" von André Caroff oder Maurice Limats eher bedächtigem (Geister)Detektiv Teddy Verano. Oder gleich normalen Thrillern mit Gruseltouch. Einige Kritiker sehen darin den Grund, warum "Angoisse" größtenteils nie über ein wenig erfolgreiches B-Level hinauskam und das Schlusslicht sowohl in Verkäufen wie auch Ansehen blieb.

Bedenkt man die recht konsequente Abschottung zur französischen Produktion in Deutschland, ist "Angoisse" aber ironischerweise die Reihe, die die deutsche Leserschaft am ausführlichsten mit der französischen Phantastik bekannt machte. Da ist der Luther-Verlag durchaus als Vorreiter zu sehen. Dicht gefolgt von Pabel wenig später. Bei Luther waren es, durchforstet man alle Reihen, Marc Agapit, Dominique Arly, Alphonse Brutsche, André Caroff, Maurice Limat, José Michel, M.A. Rayjean, Adam Saint-Moore, Michel Saint-Romain und J.M.Valente. Bei Pabel folgten G.J. Arnaud, B.R.Bruss, D.H.Keller, Peter Randa sowie ebenfalls Agapit, Brutsche, Caroff, Limat und Michel.

Agence tous crimesAgapits/Sobras erster Roman für "Angoisse" erschien 1958, "Agence tous crimes", den viele für seinen besten halten. In Deutschland erschien er 20 Jahre später in der SF-Reihe von Heyne unter dem Titel "Die Agentur" (Heyne-SF 3649). Auf den Inhalt, der viele von Sobras Themen vorwegnahm, kommen wir noch zu sprechen; der Roman hat große thematische Ähnlichkeit mit "Gas".

Die AgenturAls "Die Agentur" erschien, war der Autor bereits 61 Jahre alt. Aber er hatte hier sein Thema gefunden und blieb der Reihe in der Folgezeit bis zu ihrer Einstellung 1974 treu. Tatsächlich ist der vorletzte Band der Reihe ein Agapit. Das Ende von "Angoisse" war auch das Ende von Sobras Schriftstellerkarriere; Krimis und SF interessierten ihn nicht. Allerdings war er da auch schon 77. Die Qualität seines Werkes gilt als schwankend. Romane wie "Die Agentur" (Agence tous crimes), "Gas" (La Ville hallucinante) und ein paar andere gelten als wenig beachtete Meisterwerke. Die Romane in der letzten Phase seines Schaffens ab 1968 eher nicht. Als nur für Sammler geeignet werden häufig Romane wie "La Poursuite infernale" genannt, natürlich einer der wenigen seiner Romane, die in Deutschland erschienen. ("Der Schlächter", Vampir Horrorroman 73.) Hierzulande gab es insgesamt nur vier Übersetzungen seiner Bücher. Eine bei Luther, eine bei Heyne und zwei als Vampirheft. Also zwei interessante Romane und zwei mittelmäßige bis schlechte.

In seiner Heimat gilt Sobra bei seinen Fans ziemlich übereinstimmend als großer, in Vergessenheit geratener Autor. So schrieb Paul J. Hauswald in einem Kommentar im Zauberspiegel:

"Nach meiner Meinung ist er so wichtig wie H.P. Lovecraft, Jean Ray und Henry James, was die Originalität seine Werke betrifft. Für Sobra/Agapit waren die Ungeheuer in der Menschenseele."

Diese Meinung teilen auch Julien Dupré und Jean-Paul Labouré in einem langen Essay über den Autor. Sie bescheinigen ihm eine zutiefst misanthropische, nihilistische Ironie, einen radikalen Pessimismus, der ihn von seinen Kollegen unterscheidet und selbst für "Angoisse" mit seinen gelegentlich düsteren Romanauflösungen atypisch macht.

Und sein Kollege, der in Frankreich geschätzte SF-Autor Jean-Pierre Andrevon, schrieb anlässlich einer späteren Neuauflage über "Die Agentur":

"Auf der ersten Ebene ist es die Geschichte eines Verbrechens im Stil des Grand Guignol, auf der zweiten Ebene bezieht der Roman seine Spannung aus der psychoanalytischen Darstellung einer an Amnesie leidenden Geisteskranken, deren Halluzinationen geschickt eine Reihe enthüllender Rückblenden präsentiert. Die dritte Ebene ist die Zurschaustellung Agapitscher Obsessionen und stets wiederkehrender Themen: Sadomasochismus, Misogynie, Misanthropie und zweifellos verdrängte Homosexualität. Alles, was das Universum des Autors so besonders macht, ist in diesem ersten Roman bereits vorhanden, ein Meisterwerk in einer einst verachteten Reihe [Gemeint ist "Angoisse"]. Agapit ist mehr als nur ein talentierter Autor von Schauergeschichten; er präsentiert eine Welt, zu der er den Leser nötigt, einen Zugang zu finden."

Das sind große Worte, vor allem für einen Genreroman, aber zumindest in den Romanen "Die Agentur" und "Gas" mag das zutreffen. Da "Gas" von 1967 letztlich eine Art thematisches Remake von "Die Agentur" von 1958 ist, sollte man beide Romane zusammen betrachten.

Agence tous crimes"Die Agentur" schildert den Leidensweg einer Frau namens Jacqueline Vermot. Sie irrt auf der Straße umher und hat das Gedächtnis verloren. Ein Polizist verweist sie auf die Agentur A.V., wo man schnell ihre Identität herausfindet und sie in ihr kleines Dorf zurückschickt. Sie ist eine pensionierte Lehrerin. Zu Hause wird sie von einer Reihe Halluzinationen heimgesucht, die sie nicht von der Realität unterscheiden kann. Darin erlebt und erleidet sie erneut ihre Vergangenheit. Es läuft darauf hinaus, dass sie hoffnungslos in ihr schwieriges Pflegekind Nizou verliebt war, das sie und ihre Mutter völlig überfordert größtenteils mit Prügeln großzogen. Nizou wird zum Schmarotzer und Casanova, der nach Jahren zurückkehrt und Jacqueline genüsslich demütigt. Gegenüber ziehen zwei Schwestern ein, die angeblich ihre dritte Schwester vergiftet haben sollen. Nizou macht zuerst der einen Schwester den Hof und verlobt sich plötzlich mit der anderen. Jacqueline rast vor Eifersucht und Selbsthass. Am nächsten Tag ist Nizou tot. Jacqueline glaubt, die abgewiesene Schwester hätte ihn vergiftet. Sie verfolgt die beiden Frauen und glaubt zu entdecken, dass die eine Schwester die andere ermordet hat, der Welt nun ihre Existenz vorgaukelt und ihren Kopf im Einkaufsbeutel spazieren trägt. Triumphierend überführt Jacqueline sie vor einem Untersuchungsrichter der Tat, nur um entdecken zu müssen, dass alles wieder nur eine Halluzination war. Tatsächlich hat sie Nizou selbst aus Eifersucht vergiftet und beide Schwestern aus Hass ermordet. Vor Gericht bereut sie ihre Taten nicht, sie brüstet sich sogar damit. Auf dem Weg zur Guillotine wird sie aber von der Agentur abgefangen und erfährt, dass sie längst hingerichtet wurde. Die Agentur setzt sie auf der Straße aus, und für Jacqueline geht alles wieder von vorn los. Sie irrt mit Amnesie durch die Stadt und muss alles erneut durchleben.

Im Grunde erzählt "Gas" ein paar Jahre später die gleiche Geschichte, nur auf einer thematisch komplizierteren Ebene. Sobra war ein Fan des irischen Dramatikers George Bernhard Shaw und hat Aufsätze über ihn verfasst; die Grundidee von "Gas" entstammt in der Tat Schriften Shaws, der sich bevor sich Ideen wie Resozialisierung durchsetzten, in seiner Abhandlung "The Crime of Imprisonment" ausführlich mit den Problemen des Strafvollzugs auseinandersetzte. Allerdings macht Sobra die satirische Überspitzung hier zu einem realen Albtraum. Wo die Mörderin Jacqueline "nur" in der Qual ihrer eigenen Schuld und ihrer unerfüllten Begierden gefangen ist, wird Quintorze erbarmungslos verfolgt und lebt in ständiger Todesangst.

In einem Stil erzählt, den man durchaus als schlicht bezeichnen kann – es gibt nur wenige Schauplätze und Figuren, die Prosa ist nüchtern und kalt -, erreicht das vor allem am Anfang eine beeindruckende Intensität. Quintorzes Herumirren durch die Nacht hat etwas gelungen Kafkaeskes; die Welt, in der er erwacht, ergibt keinen Sinn und geht erbarmungslos mit ihm um.

Die unerwartete Wendung besteht natürlich darin, dass das "Opfer" Quintorze ein so widerwärtiger Mensch ist. Die Szenen am Schluss, in denen er geschlagene dreimal versucht, seine Kinder zu vergasen, nur um sie dann aus Zorn über sein Scheitern zu erwürgen, sind beklemmend. In beiden Romanen sind die Protagonisten an ihrem Elend selbst schuld; sie sind unfähig, sich oder ihr Verhalten zu ändern, obwohl sie dazu durchaus Gelegenheit bekommen. Am Ende kann man als Leser nur zu dem Schluss kommen, dass Quintorze sein Schicksal verdient hat.

In diesen Erzählungen ist der Mensch in der Tat seine eigene Hölle, für die er aber selbst die Schuld trägt. Bei Sobra gibt es kein Entkommen, keinen Gott und keine Aussicht auf Erlösung. Das ist in der Tat zutiefst pessimistisch, vielleicht sogar tatsächlich nihilistisch. Alles andere als lockere Gruselunterhaltung, in der der Held am Ende über das Böse triumphiert und zum status quo zurückkehrt.

Darüber können auch ein paar handwerkliche Schwächen nicht hinwegtäuschen. "Angoisse" hatte eine Umfangvorgabe zwischen 220 und 240 Seiten, und gerade im letzten Drittel von "Gas" gibt es ein paar unnötige Wiederholungen, um offensichtlich auf Länge zu kommen. Da ist "Die Agentur" erfolgreicher auf den Punkt geschrieben. Auch die Exposition, in der Quintorze und damit der Leser erklärt bekommen, wie das "Neue Gesetz" und die Welt funktionieren, wirkt in dieser geballten Form etwas unbeholfen.

Die AgenturVom Inhalt und der Thematik mag der Roman so gar nicht in die Luther-Reihe passen. Das ist nun nichts Neues mehr, allerdings ist das in diesem Fall auch ein grundsätzliches Problem des Autors. Auch wenn "Angoisse" nichts gegen düstere Auflösungen hatte, spielen Sobras rabenschwarze, von Obsessionen geplagte Phantasien über Schuld und Sühne schon in einer anderen Liga. Sein Werk war teilweise wohl schwierig zu kategorisieren und erst recht zu vermarkten; letztlich war "Die Agentur" in Heynes SF-Reihe genauso fehl am Platz wie "Gas" bei Luther. Aber man muss auch zugestehen, dass seine Romane sicher nicht jedermanns Ding sind und man eine derartige Phantastik mögen muss. Und das gilt nicht nur für Deutschland. Auch in Frankreich ist der Autor größtenteils in Vergessenheit geraten. Lediglich ein Roman ist zurzeit in einer Neuausgabe lieferbar, "École des monstres", eine düstere Familiengeschichte.

La Ville hallucinanteAber es ist auch ein Markenzeichen von "Angoisse", dass der verantwortliche Lektor Francoise Richard, der die Reihe von Anfang bis Ende betreute und selbst diverse Romane unter dem Sammelpseudonym Dominique H.Keller beisteuerte, durchaus aufgeschlossen für so ungewöhnliche Texte war, die der Norm nicht entsprachen. Vermutlich sah man in Sobra etwas, das man sich häufiger gewünscht hätte. Einen Beitrag zu einer eigenständigen französischen Phantastik. Und er dürfte sich ja auch nicht schlechter als die anderen verkauft haben, sonst hätte man ihm nicht 43 Romane abgenommen. Bei den Comicadaptionen des Verlags Arédit, der in den 60ern und 70ern in seiner Reihe "Hallucinations" an die 70 Romane von "Angoisse" nacherzählen ließ, sind ebenfalls etliche von Sobras Werken vertreten. Auch wenn einem nur wenig einfällt, das weniger als Comic geeignet ist, als gerade diese Romane. Aber das sahen die Franzosen offenbar anders.

Ambitionen, außergewöhnliche Werke zu veröffentlichen, hatte Luther – oder auch Pabel später – sicherlich nicht. Das soll kein Vorwurf sein. Beide Verlage versuchten, auf einem mit Krimis, Western und SF gesättigten Markt etwas Neues zu etablieren; da musste erst einmal eine solide kommerziell erfolgreiche Basis geschaffen werden. So gesehen muss man Luther in diesem Fall für seine Gleichgültigkeit dankbar sein. Die Vorstellung fällt schwer, dass "Gas" im Vampir Horror erschienen wäre. Dazu ist diese Erzählung dann doch zu fernab vom Mainstream mit seinen meisten schlichten Gruselabenteuern.

Wenn der Horror expert einen lesenswerten originellen phantastischen Roman herausgebracht hat, der es verdient hat, als Perle bezeichnet zu werden, dann ist es "Gas".

La Ville hallucinanteDas Titelbild:
Der übliche Papala. Das Motiv ist wie meistens eher beliebig. Handwerklich gut, aber auch nicht besonders bemerkenswert.

Das Original
La Ville hallucinante
Reihe »Angoisse«, Nr. 133
von Marc Agapit (Pseudonym von Adrien Sobra)

224 Seiten
Fleuve noir, 1966

Quellen:

  • Les lectures de l'oncle Paul (Blog)
  • Le Guignol Tragique de Marc Agapit – Essay von Julien Dupré und Jean-Paul Labouré
  • Noosfere.org
  • Div. Vorworte von J.M.Lofficier und anderen bei Black Coat Press

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Kommentare  

#1 Toni 2018-03-12 17:41
Ein "Ewig grüßt das Murmeltier" des Horrors. Hört sich wirklich sehr Genre-frei an. Nach der Sache mit den Kindern hätte ich den Protagonisten die Pest an den Hals geschrieben.

Schade, dass nur so wenig der Angoisse Romane von FN übersetzt wurden. Da waren bestimmt noch ein paar Perlen dabei.
Du schaffst es immer wieder, noch eine Schüppe
Infos mehr drauf zu legen...
#2 Erlkönig 2018-03-12 21:12
Diese französische Jenseits-Variante war für mich zweifellos ein Höhepunkt der Expert-Reihe.

Danke für die vielen Artikel-Zutaten.
#3 Andreas Decker 2018-03-14 14:53
Danke! Ein oder zwei interessante Infos habe ich noch gefunden für den Rest.

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