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Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1: Franz Kafka – Das Schloss und Der Prozess

Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:Utopie und Phantastik in der deutschsprachigen Hochliteratur Folge 1:
Franz Kafka: Der Prozess & Das Schloss

Phantastische Literatur in allen ihren verschiedenen Ausprägungen wird allgemein als Teil der Unterhaltungsliteratur betrachtet, um es deutlicher zu sagen der Trivialliteratur. Dass sich aber auch renommierte Autoren der deutschsprachigen Literatur, die zum Teil zu höchsten literarischen Ehren gelangten, mit utopischen und phantastischen Stoffen beschäftigten, wird in dieser Serie aufgezeigt.

Als Europäer ist man oft sehr kritisch gegenüber den Amerikanern bezüglich ihres Umgangs mit verschiedenen Kulturausprägungen eingestellt, und dies auch oft zu Recht. Aber eines muss man ihnen einräumen: Sie gehen einfach mit viel weniger Vorbehalten an Dinge heran, und versuchen deshalb nicht von vornherein, eine Einordnung in Kategorien vorzunehmen. Deshalb spielt bei ihnen der Gegensatz zwischen Hoch- und Trivialliteratur oder auch zwischen ernster und Unterhaltungsmusik nicht so eine große Rolle wie besonders bei den ach so ordnungsliebenden Deutsch(sprachig)en. Gut ist, was gefällt. Welche Art von Musik hat Mozart geschaffen? Mein österreichischer Landsmann Johann Hölzl, besser bekannt als Falco, hatte die folgende Vorstellung von meinem Salzburger Landsmann:

Er war Superstar
Er war populär
Er war so exaltiert
Because er hatte Flair

Er war ein Virtuose
Er war ein Rockidol
Und alles rief
Come and rock me Amadeus

zitiert aus: Falco: Rock me Amadeus, 1985

Die Unterhaltungsmusik von gestern ist die ernste Musik von heute.

Gewisse Parallelen zur Literatur lassen sich nicht verleugnen. SF und andere Spielarten der Phantastik wurden und werden nach wie vor von einem Großteil der Literaturkritik als Genres der Trivialliteratur gesehen. Deutschlehrer versuchten früher immer wieder, ihren Schützlingen in ihrem hehren Kampf gegen Schmutz und Schund das Lesen von Schundheften auszutreiben, statt froh darüber zu sein, wenn die Schüler überhaupt etwas freiwillig lasen und damit möglicherweise eine Grundlage für Interesse an Anspruchsvollerem legten. Heute ist wahrscheinlich jeder Lehrer froh, wenn ihre Schüler statt des Smartphones irgendetwas Gedrucktes in die Hand nehmen. Ich selbst habe vor über fünfzig Jahren im Zug des Wettrennens zwischen Russen und Amerikanern die Science Fiction als meine bevorzugte Art von Literatur entdeckt. Mit der Einordnung der Phantastik als Schundliteratur wollte mich nie abfinden. Deswegen versuchte ich, im Rahmen des Deutschunterrichts der Oberstufe in meinen Lehrbüchern über Literaturgeschichte (die ich leider nicht mehr besitze) Informationen über Autoren zu finden, die Phantastisches verfassten. Da gab es etliche interessante Einträge bei den Klassikern und Romantikern, die von Goethes Faust über Schillers Geisterseher bis zum Bettelweib von Locarno von Heinrich von Kleist und einer Reihe von Erzählungen E. T. A. Hoffmann reichten – das wäre eine weitere Artikelserie wert. Als Science Fiction-Vorläufer bzw. -Klassiker wurden immerhin Jules Verne und H. G. Wells erwähnt. Das zwanzigste Jahrhundert, in dem die SF zu einem führenden Genre der Unterhaltungsliteratur heranwuchs, blieb aber so gut wie ausgespart. So machte ich mich auf die Suche nach SF und verwandten Stoffen, die von anerkannten deutschsprachigen Autoren publiziert wurden, und bin im Lauf der Jahre auf etliche interessante Beispiele gestoßen. Diese habe ich für die hiermit beginnende Artikelreihe zusammengetragen.

Die Vorschau am Artikelende gibt den derzeitigen Stand der Planung der weiteren Artikel dar. Gerne nehme ich Hinweise auf weitere Werke entgegen, die mir noch entgangen sind und es wert wären, im Rahmen dieser Serie besprochen zu werden. Voraussetzung ist, dass es sich um einen deutschsprachigen Autor handelt, der im zwanzigsten Jahrhundert publiziert hat, bereits verstorben ist und einen guten Ruf in der allgemeinen Literatur erworben hat. Werke von Autoren, die generell dem SF- und/oder Phantastik-Umfeld zugerechnet werden, oder Werke, die in SF- und/oder Phantastikreihen erschienen sind, werden deswegen hier nicht betrachtet.

Franz KafkaEs ist kein Zufall, dass diese Artikelserie mit Franz Kafka (1883 – 1924) beginnt. Der erst posthum berühmt gewordene Kafka war Prager, promovierter Jurist und beruflich in einer Versicherungsanstalt tätig. Er war jüdischer Herkunft, seine Muttersprache war Deutsch, er beherrschte aber auch Tschechisch. Die tschechischen Sprachkenntnisse ermöglichten ihm, nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie in der neu gegründeten Tschechoslowakei seinen Arbeitsplatz zu behalten. Ihn als Tscheche zu bezeichnen, wäre aber Geschichtsklitterung. Am besten passt wohl der Begriff Altösterreicher auf ihn. Kafka plante zeitweilig, nach Israel auszuwandern, aber die Lungentuberkulose, die bei ihm im Jahr 1917 festgestellt wurde und ihm in den folgenden Jahren immer mehr zusetzte, verhinderte das. 1924 erlag Kafka dieser zu dieser Zeit vor der Entdeckung der Antibiotika in vielen Fällen tödlichen Krankheit. Durch seinen frühzeitigen Tod entging er der Verfolgung und Vernichtung durch die Nazis, der später viele seiner Bekannten ausgesetzt waren. Zu Lebzeiten erschienen nur wenige Texte Kafkas. Sein Freund und Nachlassverwalter Max Brod gab die von Kafka hinterlassenen Werke, darunter die Romane Der Prozess, Das Schloss und Amerika (auch: Der Verschollene) heraus, obwohl Kafka in seinem Testament bestimmt hatte, sie nicht zu publizieren, sondern zu verbrennen. Brod argumentierte das Nichtbefolgen von Kafkas Anweisungen damit, dass er ihm bereits zu seinen Lebzeiten gesagt hatte, als er von Franz als Testamentsexekutor designiert wurde, dass er eine solche Anweisung nicht befolgen würde. Brod war nicht nur einer der engsten Freunde Kafkas, sondern auch fanatischer Anhänger seiner Texte und wollte sie unbedingt gedruckt sehen. Er bearbeitete die unvollendeten Kafka-Romane und ordnete die Kapitel so an, wie es ihm aufgrund seiner Kenntnisse richtig erschien. Speziell Der Prozess und Das Schloss haben Kafka posthum einen überragenden Ruf beschert, sie sind aus der deutschsprachigen Literatur nicht wegzudenken. Insoweit muss man Max Brod, der 1939 im letzten Flüchtlingszug am Abend vor der Besetzung Prags durch die Nazis nach Israel flüchten konnte, für seine Befehlsverweigerung dankbar sein. Kafka war während der Nazizeit auf der Liste der verbotenen Autoren als Erzeuger von schädlichem und unerwünschtem Schriftgut, seine Werke waren den Bücherverbrennungen ausgesetzt.

Der ProzessJosef K., Prokurist in einer Bank, wird am Morgen seines dreißigsten Geburtstages verhaftet, ohne dass ihm mitgeteilt wird, was man ihm vorwirft. K. kann sich aber trotz der Verhaftung frei bewegen. Sein Prozess schreitet fort, es gelingt ihm aber nie, irgendwelche Details zu den Beschuldigungen erfahren. Statt in den Justizpalast wird er zu einem Verhör auf dem Dachboden einer labyrinthhaften surrealen Mietskaserne bestellt – an einem Sonntag, denn während der Woche soll er ungestört weiter seiner beruflichen Tätigkeit nachgehen. Niemals werden K. irgendwelche schriftlichen Unterlagen ausgehändigt, er hat es immer nur mit subalternen Gerichtsbediensteten zu tun. Die Bürokratie gibt ihre Geheimnisse nie preis. Auch die Inanspruchnahme eines Advokaten bringt nicht die geringste Unterstützung, denn die Angehörigen dieser Zunft werden vom Gericht nur mit Verachtung gesehen. Nachdem der Advokat es nicht schafft, eine Eingabe an das Gericht zu machen, kündigt K. ihm die Vertretungsbefugnis. Er will die Eingabe dann selbst machen, aber kann sich nicht darauf konzentrieren, es kommt nie zur Niederschrift des Dokumentes. Der Prozess nimmt ihn mehr und mehr geistig gefangen, K. verhält sich immer sonderbarer. Die Anzeichen verdichten sich, dass der Prozess für K. ungünstig verläuft.

„Weißt du, daß dein Prozeß schlecht steht?“ fragte der Geistliche. „Es scheint mir auch so“, sagte K. „Ich habe mir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Allerdings habe ich die Eingabe noch nicht fertig.“ „Wie stellst du dir das Ende vor?“ fragte der Geistliche. „Früher dachte ich, es müsse gut enden“, sagte K., „jetzt zweifle ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt du es?“ „Nein“, sagte der Geistliche, „aber ich fürchte, es wird schlecht enden. Man hält dich für schuldig. Dein Prozeß wird vielleicht über ein niedriges Gericht gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig deine Schuld für erwiesen.“ „Ich bin aber nicht schuldig“, sagte K. „Es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.“ „Das ist richtig“, sagte der Geistliche, „aber so pflegen die Schuldigen zu reden.“

Zitiert aus: Franz Kafka: Der Prozeß. Frankfurt am Main 1979, Fischer Taschenbuch 676.

Das Ende kommt, als zwei Herren in Zylinderhüten K. am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages abholen und zu einem Steinbruch vor den Toren der Stadt führen.

Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das Hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.

Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe an seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten.“Wie ein Hund!“ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

Zitiert aus: Franz Kafka: Der Prozeß. Frankfurt am Main 1979, Fischer Taschenbuch 676.

Der ProzessDer Landvermesser K. kommt spätabends zu Fuß in einem Dorf an, über dem sich ein Schlossberg mit dem gräflichen Schloss erhebt, um eine Stellung im Auftrag des Schlossherren Graf Westwest anzunehmen. Er nimmt Quartier im Gasthof Brückenhof und gerät alsbald in Schwierigkeiten, weil ihm ein Bediensteter des Schlosses zu verstehen gibt, dass das Dorf so wie das Schloss im Eigentum des Graf steht, K. aber keine Legitimation zum Aufenthalt vorweisen kann. Zwei Telefonate des Bediensteten mit dem Schloss ergeben widersprüchliche Ergebnisse bezüglich K.'s Berechtigung zum Aufenthalt und seines Auftrages durch den Grafen. K. kann aber vorläufig bleiben. Am nächsten Tag vesucht K., zum Schloss zu gelangen, aber der winterliche Weg ist eigenartig schwer:

So ging er wieder vorwärts, aber es war ein langer Weg. Die Straße nämlich, die Hauptstraße des Dorfes, führte nicht zum Schloßberg, sie führte nur nahe heran, dann aber, wie absichtlich, bog sie ab, und wenn sie sich auch vom Schloß nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher. Immer erwartete K., daß nun endlich die Straße zum Schluß einlenken müsse und nur, weil er es erwartete, ging er weiter; offenbar infolge seiner Müdigkeit zögerte er, die Straße zu verlassen, auch staunte er über die Länge des Dorfes, das kein Ende nahm, immer wieder die kleinen Häuschen und vereisten Fensterscheiben und Schnee und Menschenleere – endlich riß er sich los von dieser festhaltenden Straße, ein schmales Gäßchen nahm ihn auf, noch tieferer Schnee, das Herausziehen der einsinkenden Füße war eine schwere Arbeit. Schweiß brach ihm aus, plötzlich stand er still und konnte nicht mehr weiter.

Zitiert aus: Franz Kafka: Das Schloß. Frankfurt am Main 1979, Fischer Taschenbuch 900.

Das Schloss bleibt unerreichbar. K. nimmt kurz Zuflucht in einem Haus im Dorf und kehrt dann ins Gasthaus zurück. Dort treffen K.'s beide Gehilfen ein, an die sich dieser aber nicht mehr erinnern kann. Auch haben sie die notwendigen Apparate für die Landvermessung nicht mit. K. versucht weiterhin, seine Legitimation als gräflicher Landvermesser zu bekommen, scheitert aber immer wieder an der undurchschaubaren und chaotischen Bürokratie des Schlosses. Der Dorfvorsteher weist K. vorläufig eine Stellung als Schuldiener zu, was fehlschlägt, weil es gegen den Willen des Lehrers ist. Im zweiten Gasthaus des Dorfes, dem Herrenhof, wo die Angestellten des Schlosses immer wieder ihren Aufgaben nachgehen und übernachten, versucht K. weiterhin hartnäckig, aber mit wachsender Verzweiflung, sein Ziel bei der Schlossbehörde zu erreichen und endlich ins Schloss vorgelassen zu werden, um seine Tätigkeit als Landvermesser aufnehmen zu können.

Im Unterschied zum Prozess bricht der Roman ohne Ende ab. Max Brod hat aber von Kafka aus persönlichen Erzählungen erfahren, wie das Schlusskapitel gedacht war. Am siebten Tag wäre K. an Erschöpfung gestorben. Ein Erlass wäre noch von oben gekommen, dass K. keinen Rechtsanspruch habe, im Dorf zu wohnen, dass ihm aber dennoch mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände gestattet würde, hier zu wohnen und zu arbeiten.

Die Interpretationen der beiden zwillingshaften Werke sind Legion. Manche vermuten, die Werke könnten autobiografischen Hintergrund haben, sie weisen auch theologische Bezüge auf. Der Prozess kann auch als Dystopie gesehen gesehen werden, in welcher der Terror der Nazi- und/oder Stalindiktatur vorweggenommen wird. Auch Interpretationen als Satiren gibt es, in denen die Bürokratie der alten österreichischen Monarchie aufs Korn genommen wird. Jedenfalls hat Kafka lauthals gelacht, als er im Kreis seiner Freunde aus den in Arbeit befindlichen Werken vorlas. Im Nachwort zum Schloss schreibt Max Brod darüber, dass er es geflissentlich unterlassen habe, zum zuerst herausgegebenen Prozess in seinem Nachwort irgendetwas über den Inhalt des Werkes, eine Deutung oder dergleichen hinzufügen. Aufgrund der seiner Meinung nach zahlreichen Fehldeutungen reicht er eine Interpretation nach:

Die Verwandtschaft beider Werke ist sinnfällig. Nicht bloß die Namensgleichheit der Helden („Josef K.“ im >Prozeß< - „K.“ im >Schloß<) weist darauf hin. (Hier sei erwähnt, daß >Das Schloß< als Ich-Roman begonnen erscheint, später sind vom Dichter selbst die Anfangskapitel so umkorrigiert, daß überall „K.“ anstelle von „Ich“ gesetzt ist, und die weiteren Kapitel sind von Grund aus (sic!) so geschrieben). Wesentlich ist, daß im >Prozeß< der Held von einer geheimnisvollen unsichtbaren Behörde verfolgt, vor Gericht geladen, im >Schloß< von einer ebensolchen Instanz abgewehrt wird. „Josef K.“ verbirgt sich, flieht - „K.“ drängt sich auf, greift an. Trotz der entgegengesetzten Richtung aber ist das Grundgefühl identisch. Denn was bedeutet das >Schloß< mit seinen seltsamen Akten, seiner unerforschlichen Hierarchie von Beamten, mit seinen Launen und Tücken, seinem Anspruch (und durchaus gerechtfertigtem Anspruch) auf unbedingte Achtung, unbedingten Gehorsam? Ohne speziellere Deutungen auszuschließen, die vollständig richtig sein mögen, aber von dieser umfassendsten eingehegt sind wie die inneren Schalen einer chinesischen Schnitzerei von ihrer äußersten Schale – dieses >Schloß<, zu dem K. keinen Zutritt erlangt, dem er sich inbegreiflicherweise nicht einmal richtig nähern kann, ist genau das, was Theologen „Gnade“ nennen, die göttliche Lenkung menschlichen Schicksals (des Dorfes), die Wirksamkeit der Zufälle, geheimnisvollen Beschlüsse, Begabungen und Schilderungen, das Unverdiente und Unerwerbliche, das „Non liquet“ über dem Leben aller. Somit wären im >Prozeß< und im >Schloß< die beiden Erscheinungsformen der Gottheit (im Sinne der Kabbala) – Gericht und Gnade – dargestellt.

Zitiert aus: Max Brod: Nachwort zu: Franz Kafka: Das Schloß. Frankfurt am Main 1979, Fischer Taschenbuch 900.

Interessant im Zusammenhang mit den Interpretationen der beiden Werke erscheint auch, dass Kafka den Prozess in den Jahren 1914 – 1915 schrieb, zur Zeit als mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der erste Weltkrieg ausbrach, während er Das Schloss 1922 verfasste, als er bereits schwer von seiner Krankheit gezeichnet war.

Ich begebe mich jetzt nicht in die Nesseln und reklamiere die beiden Werke für die Phantastik. Siegelbewahrer der wahren Literatur werden mir aber zugestehen, Das Schloss und Der Prozess als hochinteressant für Phantastik-Leser betrachten zu dürfen. Möglicherweise stimmen sie auch zu, dass eine Reihe von Werken anderer Schriftsteller von den beiden Romanen inspiriert ist. Die Bezeichnung „kafkaesk“ für Schilderungen rätselhaft-bedrohlicher, aber auch absurder Vorgänge hat jedenfalls Eingang in die deutsche Sprache gefunden.

Wenn man Actionliteratur gewöhnt ist, dann benötigt man schon Geduld und Ausdauer, sich auf Kafka einzulassen:

Ist es möglich, daß K. wirklich Frieda liebt, täuscht er sich nicht oder täuscht er vielleicht gar nur Frieda, und wird vielleicht das einzige Ergebnis alles dessen doch nur Pepis Aufstieg sein, und wird dann K. den Irrtum merken oder ihn nicht mehr verbergen wollen und nicht mehr Frieda, sondern nur mehr Pepi sehen, was gar keine irrsinnige Einbildung Pepis sein mußte, denn mit Frieda konnte sie es als Mädchen gegen Mädchen sehr wohl aufnehmen, was niemand leugnen wird, und es war doch auch vor allem Friedas Stellung gewesen, und der Glanz, den Frieda ihr zu geben verstand, von welchem K. im Augenblick geblendet worden war.

Zitiert aus: Franz Kafka: Das Schloß. Frankfurt am Main 1979, Fischer Taschenbuch 900.

Eindeutig der Phantastik zuzuordnen sind einige kürzere Werke Kafkas. Darunter ist die merkwürdige Kurzgeschichte Das Urteil, in der ein Sohn im Bann des durch seinen Vater ausgesprochenen Urteilsspruches „Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“ sich von einer Brücke hinabstürzt, einen ungelösten Vater-Sohn-Konflikt drastisch aufzeigend, sowie Die Verwandlung und In der Strafkolonie. Die drei Geschichten waren ursprünglich dafür gedacht, in einer Art Trilogie gemeinsam zu erscheinen. Sie sind unter anderem in der Sammlung Das Urteil und andere Erzählungen enthalten.

Der Handlungsreisende Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und stellt zu seinem Erschrecken fest, dass er sich in ein insektenhaftes Ungeheuer verwandelt hat. Nachdem Die Verwandlung ihm natürlich unmöglich macht, zu seiner Arbeit zu gehen, taucht sein Vorgesetzter auf, um nachzusehen, was mit ihm geschehen ist und flieht vor dem riesigen Käfer. Die Familie Gregors treibt ihn in sein Zimmer zurück. Sie haben Abscheu vor ihm, obwohl sie Gregor durch seine Arbeit jahrelang versorgt hat. Seine Schwester Grete kümmert sich als einzige seiner Verwandten um ihn und findet heraus, welches Essen er verträgt. Gregor beginnt allmählich, die Möglichkeiten des neuen Körpers zu verstehen und kriecht an Wänden und der Decke seines Zimmers umher. Er wird durch aber einen von seinem Vater geworfenen Apfel verwundet und nimmt dann kaum mehr Nahrung zu sich. Die Mieter im Haus beschweren sich über das riesige Insekt und kündigen. Es wird Zeit, den Käfer endlich loszuwerden. Doch Gregor stirbt von selbst, ohne dass seine Familie ihn töten muss, denn durch den Nahrungsentzug kommt das Ende. Seine Familie macht erleichtert einen Ausflug, denn nun ist ein Neuanfang möglich. Tochter Grete ist zu einem schönen und üppigen Mädchen herangewachsen, es wird nun Zeit, einen braven und tüchtigen Mann für sie zu suchen. Auch Grete hat sich verwandelt.

Ein Forschungsreisender wohnt In der Strafkolonie eines ungenannten Landes einer seltsamen Exekution bei. Eine vom früheren Kommandanten erfundene Maschine sticht dem zu Exekutierenden mit Nadeln wie bei einer Tätowierung das Urteil in den Körper. Nach dieser grausamen Folter wird der Körper letzten Endes durchbohrt und die Leiche in eine Grube geworfen. Der Forschungsreisende wurde vom neuen Kommandanten, welcher ein Gegner dieser sadistischen Exekutionsmethode ist, zur Beobachtung eingeladen, weil er von ihm Unterstützung für die Abschaffung dieser Methode erhofft. Der für die Maschine und für die Exekutionen verantwortliche Offizier erhofft seinerseits vom Forschungsreisenden Unterstützung für die Hinrichtungen mit „seiner“ geliebten Maschine. Nachdem ihm der Reisende diese verweigert, begeht der Offizier Selbstmord, indem er sich selbst in die Maschine legt.

Noch eine Bemerkung zur Rechtschreibung, die mich besonders bei Kafkas Werk vor Probleme stellt. Ich lernte seine Werke in den siebziger Jahren in der damals verwendeten „alten Rechtschreibung“ kennen und habe deswegen die Zitate unverändert nach diesen Ausgaben gesetzt. In den Erstausgaben wurden seine beiden Hauptwerke als Der Prozess und Das Schloss betitelt, in den Manuskripten des ersteren Romans steht aber die Schreibweise Process. In den verschiedenen Ausgaben des Romans findet man die vier Schreibweisen Proceß, Process, Prozeß und Prozess. Kafkas Muttersprache war Pragerdeutsch, eine nach den grausamen Ereignissen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunders ausgestorbene, als besonders schön angesehene lokale Ausprägung der deutschen Standardsprache.


Bibliografie

Deutsche Erstausgaben

Franz Kafka: Der Prozess. Berlin 1925, Verlag >Die Schmiede<

Franz Kafka: Das Schloss. München 1926, Kurt Wolff

Franz Kafka. Die Verwandlung. In: René Schickele (Hrsg.): Die weißen Blätter, Jahrgang 2 1915, Heft 10, Oktober.

Franz Kafka. In der Strafkolonie. Leipzig 1919, Kurt Wolff.

Für diesen Artikel verwendete Ausgaben

Franz Kafka: Der Prozeß. Frankfurt am Main 1979, Fischer Taschenbuch 676. 687. - 711. Tausend

Franz Kafka: Das Schloß. Frankfurt am Main 1979, Fischer Taschenbuch 900. 243. - 257. Tausend

Franz Kafka: Das Urteil und andere Erzählungen. Frankfurt am Main 1979, Fischer Taschenbuch 19. 1144. - 1173. Tausend


Sekundärliteratur


Rolf Günter Renner: Kafka als phantastischer Erzähler. In. Rein A. Zondergeld: Phaïcon 3. Frankfurt am Main 1978, Suhrkamp TB 443 (Phantastische Bibliothek 17)

Übersicht aller Artikel:

13.09.2018 Franz Kafka: Der Prozess & Das Schloss
04.10.2018 Alfred Kubin: Die andere Seite
18.10.2018 Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten
01.11.2018 Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel
15.11.2018 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen
29.11.2018 Gerhart Hauptmann: Die Insel der großen Mutter
13.12.2018 Ernst Jünger: Heliopolis & Gläserne Bienen
27.12.2018 Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom & Das große Netz
10.01.2019 Walter Jens: Nein. Die Welt der Angeklagten
24.01.2019 Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik & KAFF auch Mare Crisium
07.02.2019 Marlen Haushofer: Die Wand
21.02.2019 Günter Grass: Die Rättin

 

Kommentare  

#1 Aarn Munro 2018-09-15 10:59
Viele Kafka-Texte mag ich sehr. Habe eine Gesamtausgabe. Oft sind eben auch dir kürzeren Texte phantastisch. Zum Schloss habe ich ein Game gemacht. Sehr ironisch.Der Prozess ist auch gut. (Ähnlich die KG: das Urteil).Oft alles sehr hübsch verschlüsselt. Gut, dass Max Brod damals die Texte von K nicht verbrannt hat, wie K das ursprünglich wollte. Nicht nur Gregor Samsa, der berühmte Käfer, ist der Phantastik zuzuordnen. Dieser wurde ja mehrmals verfilmt.Danke für den schönen Artikel.
#2 Heizer 2018-09-15 12:46
Verhaftung

„ Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet „

Dieser Anfang aus „ Der Proceß“ gehört wohl zu den bekanntesten „ersten Sätzen“ der Literatur.
Kafka gehört zu den Erneueren der deutschen Sprache. Er empfand wohl auch Goethe (durch dessen literarisches Gewicht ) als Ballast für eine moderne Sprache.
Kafkas Sprache ist einfach, oft schlicht und bedient sich der Alltagsvokabeln. Er schaffte es, innerhalb von elf Sätzen nur ein einziges Adjektiv zu setzen.

Schön, dass auch mal über die literarischen Schwergewichte berichtet wird.

Zum Ausblick:
Die Gelehrtenrepublik......aha !
Na....da will ich mal nichts verraten. Außer dass Kafka eventuell seine Schwierigkeiten mit der „Zeichensetzung“ dieses Werks gehabt hätte.....
#3 Hans Langsteiner 2018-12-15 10:25
Super Serie! Vielen Dank dafür! Einzubeziehen wären vielleicht noch Ernst Kreuder (Die Unauffindbaren, Die Gesellschaft vom Dachboden) und eventuell Frank Thiess.
#4 Henry Stardreamer 2018-12-18 12:45
zitiere Hans Langsteiner:
Super Serie! Vielen Dank dafür! Einzubeziehen wären vielleicht noch Ernst Kreuder (Die Unauffindbaren, Die Gesellschaft vom Dachboden) und eventuell Frank Thiess.


Dnke für das Kompliment und vor allem für die Hinweise. Bei diesen muss ich mich aber erst schlau machen, denn diese beiden Autoren kannte ich noch nicht.

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