Serno, Wolf - Die Medica von Bologna
Die Medica von Bologna
Als Carla Maria Castagnolo zu erzählen beginnt, ist sie achtundvierzig Jahre alt - also zweifelsohne ein Alter, das in die vorrangige Zielgruppe eines solchen Buches fällt. Dieser Gedanke macht den Unterschied der Lebensumstände einer Frau damals und heute umso deutlicher.
Carla lebt in einer Höhle, seit sechzehn Jahren (mehr oder weniger) abgeschottet von Menschen. Sie schreibt ihre Lebensgeschichte nieder, indem sie chronologisch berichtet. Geboren in Bologna als Tochter einer Schneiderin erlebt sie eine eher ungewöhnliche Kindheit. Ihre Mutter, eine hart arbeitende Frau, die weder über Gefühle, Probleme oder gar Carlas Vater redet, erzieht Carla vor allem dazu, sich allein in den wenigen Räumen der Wohnung aufzuhalten, beim Nähen zu helfen... Carla wird "einfach irgendwie groß".
Erst als Carla als Jugendliche versehentlich in einen Spiegel blickt und ihr eigenes Spiegelbild entdeckt, wird ihr klar, dass irgend etwas nicht stimmen kann. Eine Hälfte ihres Gesichtes ist von einem riesigen Feuermal bedeckt, das sie entstellt. Als wäre das nicht genug gilt ein solches Mal auch noch als ein Zeichen für eine Strafe Gottes. Sie gilt als Sünderin, verflucht.
Dem Kind, das Carla ist, ist dies allerdings nicht bewusst. Sie ist verstört durch das Verhalten ihrer Mutter, die Nachts seltsame Gebete spricht, sie von anderen Menschen isoliert. In ihrer Einsamkeit hat sie Puppen als Freunde, lernt die Kunst der Schneiderei und entwickelt sich zur jungen Frau.
Carla hat zwei große Träume: Sie will endlich ihren Makel los werden (das Feuermal) und sie will als Medizinerin tätig sein. Auf dem Weg dorthin begegnet sie einigen Männern, die diesen entscheidend prägen, darunter Gaspare Tagliacozzi, der als einer der ersten Wiederherstellungschirurgen der westlichen Medizingeschichte gilt.
Durch diese Begnung nimmt Carla Anteil an einer medizinischen Entwicklung, die nur als Sensation bezeichnet werden konnte und Tagliacozzis Ruhm als Wunderarzt begründete.
Ihm gelang es, aus einem Hautlappen des Oberarms, der im Verlauf der Behandlung mit dem Gesichtsbereich verbunden wurde (siehe Abbildung links), Nasen zu rekonstruieren.
Selbstverständlich erfährt die Leserin (das Buch wird eher Frauen als Männer ansprechen), dass Carla an den erfolgreichen Operationen nicht unerheblichen Anteil hat. So konstruiert sie zum Beispiel eine neue Form der Weste, die der Patient während der Prozeduren tragen muss, um den Oberkörper möglichst ruhig zu halten.
Die entscheidende Frage des Romans - und Carlas Leben - wird sein: Gelingt es ihr, einen Platz in der Welt der Männer zu erobern, oder wird sie immer "nur" die Frau sein, die den Mann inspiriert?
Der Roman von W. Serno ist mit über 600 Seiten umfangreich geraten, und bereits zu Beginn erahnt man, dass das Leben Carlas mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht zu einem "wirklich guten Ende" kommt, so erwartet man auch vegebens ein Happy End.
Carla ist und bleibt letzten Endes "nur" eine Frau in einer männerdominierten Welt, auch wenn sie sich in einigen Aspekten eine Freiheit erobert, die für eine Frau nicht vorgesehen war. Sie rettet Menschenleben, nicht allein als Pflegeschwester, sondern aktiv als Medica, erlangt Dankbarkeit und ein gewisses Maß an Unsterblichkeit - und endet doch in selbstgewählter Verbannung.
Besonders irritierend ist beim Lesen des Buches immer wieder die eigentümliche Art, mit der Carla ihr Leben erzählt. Es geschieht zu großen Teilen mit einer distanziert wirkenden Emotionslosigkeit, die nur selten wirklich durchbrochen wird. Hin und wieder wie mangelndes schriftstellerisches Können wirkend, stellt es eigentlich gekonnt das Wesen einer Frau auf, der das Leben viel vorenthalten hat, und die den Umgang mit Gefühlen erst spät gelernt hat.
Dafür geraten die Beschreibungen der Lebensmittel und Speisen, von Schnitten, der Wirkung von Kleidungsstücken und Stoffen und medizinischen Fakten zu breit und ausführlich, die dazu führten, dass ich mich gar nicht mehr wirklich in diese vertiefte, sondern lediglich überflog, um mich nicht von dem Verlauf der Geschichte selbst ablenken zu lassen. Hier wäre es sicher besser gewesen, weniger breit zu berichten, und sie stärker in der Erzählung "untergehen" zu lassen - um sie so lebendiger zu machen.
Serno ist ein Routinier in der Schöpfung voluminöser historischer Romane, die Liste seiner Veröffentlichungen ist lang. Wie auch die anderen "Epen" ist die Medica gut recherchiert, macht einen in sich runden Eindruck und wirkt nie so unglaubwürdig, dass man kein Interesse mehr an ihr hat.
Jene Liebhaber(innen) historischer Frauenromane mit authentischen historischen Ansätzen werden das Buch sicherlich mögen und mit dem gleichen Vergnügen lesen wie die Wanderhure. Es ist genau das, was es sein möchte: Frauenunterhaltung mit einem gewissen historischen Anspruch und einer Prise "frauenbewegter Apothekerin " (von mir immer wieder gern zitiert aus dem Interview mit Rebecca Gable).