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Mein Nachbar, der Vampyr - Die Reihe »Vampire unter uns!« von Mark Benecke et al.: 3. Psycho

Vampire unter unsMein Nachbar, der Vampyr
Die Reihe »Vampire unter uns!« von Mark Benecke et al.

3. Psycho
Frater Mordor schreibt, daß die Motivationen der sterblichen Vampire böser seien „als die Dinge im Licht“, nur „weil sie oft nicht verstanden“ würden. Diese Menschen würden sich in jene Bereiche trauen, „die andere nicht zu betreten wagen – Sie sind bereit, ihr Innerstes zu erforschen und darin mehr zu finden als den Kern, den die Gesellschaft als Menschlichkeit definiert“.


Diese Definiton ließe sich freilich auch auf auf eine große Zahl von Goths und Wavern anwenden, außerdem auf byroneske Charaktere, auf viele Esoteriker und Leute, die sich selbst mit Hilfe der Psychologie zu erkennen suchen. Was also hebt den Vampyr von ihnen ab, wenn nicht Äußerlichkeiten?

Allen „erwachten“ Vampyren schreibt Mark Benecke den von Christian von Aster geprägten Satz „Wir sind, was ihr nicht zu sein wagt.“ als mögliches Motto zu. Statt in sich rein zu fressen, würden sie eben entlang ihrer „privaten, samtenen und nächtlichen Wege“ schleichen.

Auch das ist nichts wirklich Spezifisches. Choleriker, Soziopathen und Psychopathen sind dafür bekannt, ebenfalls nichts in sich „reinzufressen“, und ihre Persönlichkeit auf eine Weise auszuleben, wie es andere Menschen normalerweise nicht „wagen“ würden. Daß dieses „Ausleben“ allerdings in Form eines „privaten“ Schleichens geschehen soll, hört sich ein bißchen wie ein Widerspruch an. Der löst sich freilich auf, wenn man bedenkt, daß nicht jeder so gepolt ist, daß er sein Ego anderen gegenüber durchzusetzen möchte. Manche Personen neigen auch eher zur Eigenbrötelei, der sie dann nachgehen, ohne jemand anderem zu schaden. Auch das ist natürlich noch nichts, was einen Vampyr abgrenzt etwa gegenüber Künstlern, Stubengelehrten, Mystiker oder Leuten mit einem Hobby.

Zur Faszination des bösen Vampirs, den man etwa aus dem Kino kennt, und der ja letzten Endes die Szene geprägt hat, meint die von Mark Benecke interviewte Angelus („Angela“ klang ihr wohl ein wenig zu albern?): „Das kommt von ihrer kraftvollen, mächtigen Ausstrahlung. Jeder Mensch möchte im Grunde so sein. Der Wunsch nach Schönheit, Stärke und Macht, den jeder in sich trägt, macht den Vampir so anziehend… Die Schwachen und Depressiven sehnen sich danach, ein Vampir zu sein. Die Starken sind schon Vampire.“

„Sprechen Sie nur für sich selbst, Frau Merkel!“, ist der Satz, der mir spontan dazu einfällt. Mit welchem Grund dieser weibliche männliche Engel zu wissen meint, was „jeder Mensch“ im Grunde sein möchte, und wieso wir alle Machtkomplexe haben sollen, wird im ganzen Text nicht erwähnt. Ich glaube, wir erfahren hier mehr über die Dame und ihre Phantasien selbst, als über die community im Allgemeinen.

Man könnte ihre Ausführungen jedoch auch dahingehend interpretieren, das die Vampyre das ersehnen, was die Vampire schon haben, nämlich „Schönheit, Stärke und Macht“.

Sowas haben nun auch Superhelden, Diktatoren, James Bond und Karrieristen im Allgemeinen („Erfolg macht sexy“). Mir wäre aber nicht bekannt, daß sich in der Vampyr- Community außergewöhnlich viele Fans von „Reich und schön“ oder „Germany's Next Topfmodel“ befinden würden.

Vermutlich ist es am hilfreichsten, sich zu vergegenwärtigen, was den Unterschied eines Vampirs im Vergleich zu anderen Typen von Heroen und Schurken in Film und Literatur ausmacht. Das ist nicht so einfach, wie man vielleicht denkt, denn dem klassischen einsamen Verdammten mit altmodisch gepflegten Manieren, der sich nach seiner Sterblichkeit zurücksehnt (a là „Interview mit einem Vampir“), stehen die Ghetto- Monstergangs aus „Blade“ gegenüber, die sich an futuristisch- phallischen Waffen ergötzen und sich selbst für die Krone der Schöpfung halten. Die verboten verführerische Sexualität eines Grafen Dracula hat nichts mit dem gruseligen Äußeren eines Nosferatu zu tun. Und wo die Spitzzähne bei White Wolf die heimlichen Herrscher der Welt sind, kommen sie in den „Twilight“- Filmen eher wie Mitglieder einer Boygroup daher.

Und doch gibt es Gemeinsamkeiten: Sie alle sind Kreaturen der Nacht, die entweder außerhalb der menschlichen Gesellschaft stehen, oder ihr gegenüber ihre wahre Natur verheimlichen müssen. Diese „wahre Natur“ enthält sowohl Schwächen und gefährliche Aspekte, als auch Stärken. Die für den gewöhnlichen Staubgeborenen bedrohlichen Eigenschaften lassen sich in manchen Fällen auch „entschärfen“, etwa durch den Konsum von Tier- oder Spenderblut.

Dementsprechend wäre eine mögliche Motivation für ein Dasein als Vampyr das Gefühl, daß man sich wegen seiner eigenen „dunklen Seiten“ nicht der Gemeinschaft der Sterblichen zugehörig fühlt. Diese „dunklen Seiten“ müssen nicht notwendigerweise schlechte Charaktermerkmale sein, sondern vielmehr solche, die vom Umfeld des Betroffenen abgelehnt werden. Dazu kann zum Beispiel Sensibilität zählen, wenn das Milieu mehr von Gewalt, Leistungsdruck, Pflichten, Primitivität oder Oberflächlichkeit geprägt ist. Wo Dinge verachtet werden, die an sich nicht verachtenswert sind, und die letzten Endes auch nicht abgelegt werden können, weil sie zur essenziellen Natur der Persönlichkeit gehören, liegt der Weg ins Außenseitertum nahe.

Desweiteren ist Vampiren eine parasitische Wesensart zu eigen. Um existieren zu können, brauchen sie das Blut (oder die Lebensenergie) derjenigen, zu denen sie nicht gehören.

Das spricht für das Klischee des einsamen Wolfes, der eigentlich ein Rudeltier ist, und nur aufgrund der Umstände ein solitäres Dasein führt. Auf den Menschen umgemünzt, wäre das jemand, der sich nach Gesellschaft sehnt, aber deren Akzeptanzkriterien nicht erfüllen kann oder will. Und jemand, der eine innere Leere verspürt, die er allein nicht zu füllen vermag.

Auch dies alles sind Charakteristika, die bei vielen Menschen mit traumatischen Erfahrungen oder einer Neigung zu Melancholie oder Depression vorkommen. Die Besonderheit ist hier allerdings, daß der Untote aus Film und Fernsehen als Symbol (wenn nicht gar als Archetyp) für die eigene psychische Situation fungiert.

Natürlich sind die Spitzzähne auch Schreckgestalten. Aber damit können sie bei ihren sterblichen Äquivalenten sowohl für den Wunsch stehen, „es den anderen mal richtig zu zeigen“, als auch für den Versuch, die eigenen Ängste unschädlich zu machen, indem man sich selbst mit ihnen identifiziert (An dieser Stelle zitiere ich den guten Tzimisce- Baron von Schottersteyn, Prince of Schleswig: „He has lest to fear the shadows, who lurks among them“). Den letztgenannten Mechanismus hat Lydia Benecke schon im Abschnitt über die Gothics beschrieben.

Aber wo im vorangegangenen Kapitel schon versucht worden ist, diese zu analysieren, was sagen die Wissenschaften denn eigentlich zu den Vampyren?

Frau Benecke bescheinigt denjenigen Spitzzähnen, mit denen sie Kontakt gehabt hat, „sehr gute sprachliche Fähigkeiten, Offenheit bezüglich psychischer Besonderheiten und ein hohes Maß an Selbstreflexion“. Sie zitiert aus einer Befragung der Atlanta Vampire Alliance (AVA) aus dem Jahre 2006, nach der ein Großteil der sich selbst als Vampyr bezeichnenden Personen unter 30 seien, der Anteil an Frauen leicht überwiege, und sich nur 48% der weiblichen und 66% der männlichen Vertreter als heterosexuell sehen. Auch seien (freilich nach eigenen Angaben) viele Hochbegabte unter ihnen, mit einem IQ zwischen 125 und 175. Gerade mal 2% der Befragten hätten eine Vorstrafe: „Vampyre scheinen sehr gesetzestreu zu sein.“ Nur 8% hätten angegeben, sie würden lieber „normal“ sein.

Mark Benecke schreibt im Vorwort zum dritten Buch, daß zu den typischen Eigenschaften von Vampyren auch das Langschläfertum gehört: „Bei Spätaufstehern finden sich auch öfters Depressionen, Angststörungen, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom), Risikoverhalten, aber ebenso gehäuft Offenheit und kreatives Schaffen. Spätaufsteher sind, kurz gesagt, meist etwas individualistischere und künstlerische Charaktere.“

Den frühen Vogel frißt bekanntlich die späte Katze, während sich der Wurm im Apfelhäuschen zur Ruhe begibt. Als Nachteule und bekennender Katzennarr kann ich mich Herrn Benecke eigentlich nur anschließen, doch vermisse ich auch hier die Angabe der Quelle, auf die er sich bezieht.

Desweiteren gäbe es eine Reihe von Merkmalen, die zwar auf Vampyre zutreffen, aber auch auf andere Bevölkerungsgruppen, die nicht unbedingt etwas mit dieser Subkultur zu tun haben müssen.

Laut Lydia Benecke und der Studie der Atlanta Vampire Alliance (AVA) wußte ein Großteil der Vampyre außerdem noch von einer schwierigen Kindheit zu berichten, und nahezu die Hälfte wäre körperlich mißhandelt und/ oder sexuell mißbraucht worden. Dabei ist die Rede von „emotional instabilen Eltern, die heftige und unberechenbare Wutausbrüche hatten, von Vernachlässigung, körperlichen Mißhandlungen und/ oder sexuellem Mißbrauch“. Als Folge litten viele unter Depressionen, chronischen Kopfschmerzen oder Angst-, Zwangs- oder Schlafstörungen.

Ist man derart negativen Lebensbedingungen längerfristig ausgesetzt, so führen sie unweigerlich zur Traumatisierung. Insbesondere Kindern fehlt die Kraft, sie ab Überschreiten eines Levels psychisch zu verarbeiten. Typische Auswirkungen sind die Borderline- Persönlichkeitsstörung und die Posttraumatische Belastungsstörung.

Erstere äußert sich in einer übertriebenen Angst vor dem Verlassenwerden (mit einem starken Schwanken zwischen extremer Vergötterung oder Entwertung des Partners). Sie trifft nicht auf viele Vampyre zu, zumal gerade in diesen Kreisen die Einsamkeit oftmals extra gesucht wird.

Letztere zeichnet sich dadurch aus, daß die Betroffenen immer wieder von Erinnerungsfetzen an das Erlittene heimgesucht werden, so daß sie Dinge meiden, die bei ihnen solche Rückblenden auslösen könnten. Sie entwickeln dazu Symptome, die auch bei Depressionen vorkommen: Passivität, Entfremdung, Affektverflachung und Hoffnungslosigkeit in Bezug auf die Zukunft. Schlafstörungen, Reizbarkeit, übermäßige Wachheit, Schreckhaftigkeit und Konzentrationsschwäche sind ebenfalls möglich. Auch hier paßt das Schema auf einige Vampyre, nicht aber auf deren Mehrzahl.

So fügt Frau Benecke noch die „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ an. Sie wird charakterisiert anhand ausgeprägter Stimmungsschwankungen, die nicht beherrscht werden und sich autoaggressiv auswirken können, sowie aufgrund einer gestörten Selbstwahrnehmung, Kontaktproblemen (z. B. die automatische Annahme einer Opfer- oder Außenseiterposition, in die man zu Schulzeiten gedrängt worden ist), körperlichen Symptomen (Kopfschmerzen, Übelkeit, Magen- Darm- Probleme etc.), übertriebenen Ängsten und einer Veränderung der Lebenseinstellung zum Depressiven hin. Eine typische Folge traumatischer Erfahrungen sind auch dissoziative Störungen, bei denen sich vorübergehend Wahrnehmung und Bewußtsein des Betroffenen verändern. In ihrer alltäglichen Form äußerten sie sich gern in einer mangelhaften Aufmerksamkeit, aber in traumatischen Zusammenhängen können Gedächtnisausfälle, eine befremdliche Wahrnehmung, Ausfälle in der Körperkontrolle und sogar Multiple Persönlichkeitsstörungen auftreten.

Ein weiterer, auch für die Borderline- Störung typischer Effekt ist die erhöhte Empfindlichkeit für negative Sinneswahrnehmungen, während positive schwerer erkannt und bemerkt werden. So können negative Ausbrüche kurzfristig sogar lindernd wirken, weil sie die Kruste schlechter Erfahrungen aufbrechen, und für einen Belohnungseffekt im Hirn sorgen. Langfristig freilich führen sie einen weiter in die Tiefe hinab.

Starke Sinnesreize können Frau Benecke zufolge „ein schnelles und effektives Mittel“ sein, „um solche negativen Zustände (zu) beenden“. Dazu gehört das „Ritzen“ (Selbstverstümmelung durch Schnitte), aber auch das Trinken von Blut. Da sie helfen, den emotional negativen Zustand zu durchbrechen, können sie fortan als positiv wahrgenommen werden. Damit kann der Konsum von Lebenssaft nicht nur zu einem Bedürfnis werden, um die eigene trübe Stimmung zu bekämpfen; er kann sich sogar zu einem dominanten Antrieb entwickeln, der „andere, eher selbstgefährdende Verhaltensweisen“ in den Hintergrund treten läßt.

Frau Benecke meint, daß die Personengruppe, auf die diese Kriterien zutreffen würden, „bei den deutschen Vampyren merklich vertreten zu sein“ scheint.

Eine Zugehörigkeit zur Szene würde ihr zufolge zwar keine Therapie ersetzen, aber durch Austausch mit Schicksalsgefährten zumindest lindern, und den Betroffenen helfen, „sich selbst etwas positiver wahrzunehmen“.

Zum Schluß sei noch eine in naturwissenschaftlicher Hinsicht etwas befremdlich erscheinende Eigenschaft der Vampyre erwähnt, nämlich das „unsichtbar Werden“. Markus, Fallen und Marvin von der Gemeinschaft Nexus Noctis sehen es als Eigenschaft zumindest der sanguinischen Vampire. Ihm scheint eine Form von lautlosem Bewegen und sich unauffällig Geben zugrunde zu liegen, so daß man von seinen Mitmenschen gar nicht oder mit plötzlichem Erschrecken bemerkt wird. Auch ein „durchbohrender Blick“ kann unbewußt antrainiert werden (z. B. durch eine veränderte Kopfhaltung). Hier würde vermutlich die innere Einstellung „nach außen strahlen“..

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