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Die unbekannte Weihnachtswelt

Küsse unterm MistelzweigDie unbekannte Weihnachtswelt

Ich muss dieser Geschichte einige Worte voranstellen. Keine Sorge – ich halte es kurz! Zumindest versuche ich es. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der man liebevoll miteinander umging – Schläge? Böse Worte? Fehlanzeige. Meine Schwester und ich hatten eine tolle Kindheit. In der hatte natürlich auch das Weihnachtsfest seinen festen Platz. Allerdings lief das bei uns recht ... pragmatisch ab. Tannenbaum, Kartoffelsalat mit Würstchen oder die unvergleichlichen Fischfrikadellen meiner Mutter ... aufgeregte Kinder ... Geheimniskrämerei ... die Glocke, die zur Bescherung rief – alles war vorhanden. Natürlich auch die Geschenke!


Aber es gab keinen aufgeplusterten Pathos, keine Weihnachtschoräle unter dem Baum, keine Kirchgänge.
Was soll ich sagen – Weihnachten in meiner Kindheit war cool!

Als Schwesterchen und Brüderchen langsam erwachsen wurden, wurde das ganze Drum und Dran zurückgefahren, was ja auch nur logisch schien. Meine Schwester heiratete, bekam ihr erstes Kind. Ich wohnte nach wie vor bei meinen Eltern - »Hotel Mama«, ja klar, ich gebe es zu.

Doch dann, im August 1979, lernte ich Bärbel kennen. Und ein Jahr darauf, war ich am Heiligabend bei ihren Eltern eingeladen – einer reichlich katholischen Familie mit strengen Traditionen ... aber lest selbst:

Volker Krämer ist einer der festen Autoren von Professor Zamorra, der im Bastei-Verlag ercheinenden Heftromanserie. Eingestiegen ist er mit dem Band 735. Völker Krämer stammt aus Gelsenkirchen und lebt dort bis heute.

24. Dezember 1980 – so gegen 17 Uhr.

Seit über einem Jahr waren Bärbel und ich nun zusammen. Der Heiligabendbesuch bei ihren Eltern stand auf dem Programm.  Und ich hatte mich fein gemacht.
Nun ja ... soweit das bei mir eben funktionierte.

Als ich auf die Türglocke drückte, fiel mir der seltsame Blick meiner Mutter von vorhin ein, als sie mich verabschiedet hatte. Was hatte sie mir damit wohl andeuten wollen?

In der nächsten Minute wusste ich es.

Bärbel öffnete mir die Tür und begrüßte mich mit einem Kuss. Und als besagte Tür hinter mir ins Schloss fiel, da war ich Gefangener einer Welt, die mir zuvor vollkommen unbekannt war ... ich hatte die »Weihnachtswelt der Familie Obervoßbeck« betreten.

Im ersten Moment befürchtete ich, dass man den armen Leuten den Strom abgesperrt hätte, denn irgendwie war es in der ganzen Wohnung reichlich dunkel. Unverschämt – so etwas machte man doch nicht am Heiligabend.

Nur Kerzenschein erleuchtete notdürftig die Räume, in denen es seltsam duftete. Zimt, Vanille ... nicht übel, aber doch recht heftig für meine unbedarfte Nase.
Ich erschnüffelte auch Koriander und Weihrauch.

FotoSehr verdächtig ...

Nach einer Tasse Tee in der Küche – ich hätte eher einen sehr großen Cognac benötigt – schritt man zur Bescherung.

Ehrlich: so einen riesigen Tannenbaum hatte ich zuvor noch nie gesehen. Und für Sekunden beschäftigte mich der Gedanke, wie viele Packungen Lametta dort wohl baumelten? Was hätte man daraus für sinnvolle Dinge herstellen können!

Bärbels Vater schaute sehr ernst und feierlich drein, als er sich an das Klavier setzte. Was hatte der Mann vor?

Wir anderen standen im Halbkreis um das Instrument herum. Und dann begann er doch tatsächlich Weihnachtslieder zu spielen – und alle sangen mit! Nur ich nicht ...

Ich war definitiv auf einem fremden Planet gelandet! Das waren Aliens ... Weihnachts-Aliens!

Wo auch immer irgendjemand zu singen begann, da suchte ich mein Heil in der Flucht. Immer!

Aber ich war tapfer und blieb, denn ich wollte meine Freundin ja nicht verärgern.

Die Bescherung verlief feierlich und nach einem offenbar uralten Ritual, das ich erst noch zu erlernen hatte. Doch ich denke, ich habe mich für einen Anfänger ganz ordentlich gehalten.

Die Geschenke wurden mit strahlendem Lächeln verteilt – doch dann packte niemand die Päckchen und Pakete aus. Jeder versuchte den anderen zu animieren:

»Fang doch an!«

»Ich? Nein – fang doch du an.«

»Nö ... ich warte ...«

Ich halte mich für anpassungsfähig, bin immer bereit Neues zu lernen ... das habe ich bis heute nicht begriffen. Nun ...

Dann kam das Festessen.

Ich konnte kaum glauben, was da alles aufgefahren wurde, denn in meiner Familie hatten wir uns in dieser Hinsicht am Heiligabend immer recht schlicht mit Kartoffelsalat und Würstchen begnügt.

Hier sah das freilich anders aus.

Ich fasse mich kurz: die Pute hatte in ihrem kurzen Leben ganz sicher die eine oder andere Portion Wachstumshormone erhalten. Da ich kein Geflügel mag, hatte meine zukünftige Schwiegermutter mir Filetstücke bereitet, die beinahe magisch von den Blicken meines heutigen Schwagers angezogen wurden. Suppe – Hauptgang – Nachtisch – ich stand kurz vor einem Schlaganfall und konnte mich kaum noch rühren.

Dann standen wie hingezaubert die verschiedensten hochprozentigen Getränke auf dem Tisch – und es wurde noch ein langer, langer Abend ...

Es war schon sehr spät, als ich wieder nach Hause kam.

Mein Vater schlief längst, doch meine Mutter erwartete neugierig meinen Bericht.

Ich ließ mich in einem Sessel nieder, schüttete mir einen Whiskey ein und begann zu erzählen.

Mama unterbrach mich nicht, nickte nur verstehend. Ich glaube, sie hat vorher schon geahnt, in welche »Weihnachtswelt« es mich an diesem Abend verschlagen würde.

 Ich bin auch heute noch ein Weihnachtsmuffel.

Ein sehr großer sogar. Der ganze Konsumterror nervt – soweit nur eben möglich ziehe ich mich da raus, meide Weihnachtsmärkte und zappe im TV jedes »weihnachtliche Gedudel« weg. 

Doch die Heiligabende bei den Schwiegereltern gehören schon lange fest zu meinem Leben.

Und das soll bitteschön auch so bleiben.

Nachtrag: Diese Geschichte habe ich vor zwei Jahren für meine Schwiegermutter geschrieben. Als ich sie – natürlich an einem 24. Dezember – vorgetragen habe, hatten alle ihren Spaß daran. Nur Schwiegermutter lächelte ein wenig gequält.

Im Mai 2007 ist mein Schwiegervater gestorben.

Dieser nun kommende Heiligabend wird schwer für die Familie, besonders für Schwiegerma. Ich hoffe, wir anderen können ihr da ein wenig helfen, denn es wird nicht mehr so wie früher sein, das ist klar.

Aber was bleibt schon immer so, wie wir es kennen und lieben?

Volker Krämer, Dezember 2007

 

 

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