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Die Bewandtnis mit Atlantis: 3. Der archäologische Befund - Tarschisch/Tartessos

Die Bewandtnis mit Atlantis3. Der archäologische Befund
Tarschisch/ Tartessos: Lebten in Atlantis Hispanier, Etrusker und Phönizier?

Das Atlas- Gebirge hätte Platos Beschreibung in manchen geographischen Punkten entsprochen, doch nach unserem heutigen Kenntnisstand ist es in vorchristlicher Zeit niemals das Zentrum einer Hochkultur gewesen. Doch immerhin haben wir die Megalithiker und die Glockenbecher- Leute kennengelernt, deren Kultur auf den Maghreb ausgestrahlt hat. Beide haben Spuren im gesamten Westen Europas hinterlassen.

 

Die letztgenannte Zivilisation hat dabei das Stadium der Bronzezeit erreicht, und auch den an Lagerstätten reichen Nordwesten Afrikas mit einbezogen. Die Handelsnetze reichten bis zu den Zinnminen Cornwalls, während man den Kupfer eben aus dem Atlas bezog. Alle Voraussetzungen waren gegeben, um Reichtümer zu sammeln, und Reichtum war schon immer eine der zuverlässigsten Grundlagen der Macht.

Leider haben die geschichtlichen Völker dieser Epoche nur mit dem Osten des Mittelmeeres zu tun gehabt, so daß man über die Region jenseits von Italien nur wenig zu berichten gewußt hat. Das Wenige jedoch nährt einen ganz bestimmten Verdacht. So schlug Herakles der Sage zufolge in Iberien den Riesen Geryon (der vier Leiber hatte), und trieb seine Herde quer durch Frankreichs Süden nach Italien, wo er den Dieb Cacus züchtigte (Cacus ist tatsächlich Latein, und als männliche Version von Caca eine ziemlich ungehörige Beleidigung). Einer weiteren Sage zufolge traf er im äußersten Westen der Welt auf Atlas, nämlich im Garten der Hesperiden. Die „Säulen des Herakles“ befanden sich jedoch nicht in dem Gebirge, das den Namen des Titanen trägt; sie standen in Gades, das vor der spanischen Küste lag. Kann man dies als Indiz dafür werten, daß man unter der „Atlas“- Region ursprünglich nicht nur die Berge des Maghreb verstanden hat, sondern als pars pro toto den gesamten äußersten Westen der weiland bekannten Welt?

Darauf deutet auch Herodots Behauptung hin, Poseidon stamme aus Libyen, also dem Westen, während er ansonsten den Ursprung der meisten einheimischen Götter am Nil sieht, also im Süden. Poseidons originäre Einflußsphäre läge demnach nicht in Griechenland oder Ägypten, sondern in den Ländern der Karthager und Etrusker, der Kelten und Hispanier, der Libyer und Atalanten. König Atlas aber soll laut Plato sein Sohn und Erbe sein. Heißt das, daß all die genannten Völker damit in den Kontext von „Atlantis“ gehören?

Eindeutige Belege gibt es nicht. Aber auch, wenn sich diese Vermutung nicht bewahrheiten sollte, so ist es immer noch denkbar, daß sich ein auf der Glockenbecher- Kultur wurzelndes Imperium nach dem Höhenzug benannt hat, auf dessen Erzvorkommen sein Reichtum fußt.

Allerdings muß man hierbei auch bedenken, daß Herodot nichts weiß von einer eventuellen Zugehörigkeit des Maghrebs zu einem anderen Reich im Westen der ihm bekannten Welt. Er beschreibt die Atalanten eigentlich mehr oder weniger wie ein selbständiges Völkchen.

Freilich ist sein Wissen über die Region eher dürftig (Er kennt noch nicht einmal die Römer). Hier dominierten die Phönizier (vor allem die Karthager), die in den Griechen mit Recht einen ernst zu nehmenden Handelskonkurrenten sahen. Dementsprechend hielten sie ihre Routen geheim und Stützpunkte auf Malta, Pantelleria, Sizilien, Sardinien, Korsika und den Balearen sorgten dafür, daß auch immer genügend Schiffe vor Ort waren, vorwitzige Eindringlinge zu verscheuchen. Auch streuten sie gezielt Fehlinformationen. Und zumindest einer von ihnen, die auch bei Platos Atlantis wieder auftaucht, ist er aufgesessen: Er schreibt, daß das Meer jenseits der Säulen des Herakles vor lauter Schlamm nicht zu befahren sei. Das dem nicht so war, wußten die Karthager nicht erst seit der Expeditionen ihrer Admiräle Hanno und Himilco.

Aber ausgerechnet Plato liefert uns einen Hinweis, daß „Atlantis“ doch genau hier zu suchen sein muß. Um ihn zu finden, müssen wir noch einmal seine Worte durchgehen. Wie heißt es in der Timaios?
„... vor der Mündung, welche ihr in eurer Sprache die Säulen des Herakles heißt, hatte es eine Insel, welche größer war als Asien und Libyen zusammen, und von ihr konnte man damals nach den übrigen Inseln hinübersetzen, und von den Inseln auf das ganze gegenüberliegende Festland, welches jenes recht eigentlich so zu nennende Meer umschließt... Auf dieser Insel Atlantis nun bestand eine große und bewundernswürdige Königsherrschaft, welche nicht bloß die ganze Insel, sondern auch viele andere Inseln und Teile des Festlands unter ihrer Gewalt hatte.“

Und wenig später steht dort zu lesen:
„Späterhin aber entstanden gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen... und ebenso verschwand die Insel Atlantis, indem sie im Meere unterging...“
Und auch die Zusammenfassung zu Beginn der Kritias widerspricht dem nicht:
„... während über die Ersteren die Könige der Insel Atlantis herrschten, welche, wie ich bemerkt habe, einst größer war als Libyen und Asien (zusammen), jetzt aber durch Erderschütterungen untergegangen ist und dabei einen undurchdringlichen Schlamm zurückgelassen hat, welcher sich Denen, die in das jenseitige Meer hinausschiffen wollen, als Hindernis ihres weiteren Vordringens entgegenstellt...“
Atlantis – oder wörtlich: Atlas‘ Insel – ist für Plato ein versunkenes Eiland von enormer Größe, nur ein kleines Stück jenseits der Säulen von Gibraltar gelegen. Damit sollte eigentlich alles klar sein... sollte, denn an einer Stelle in der Kritias (114b) stimmt das alles auf einmal gar nicht mehr:
„Dem nach ihm geborenen Zwillingsbruder ferner, welcher den äußersten Teil der Insel, von den Säulen des Herakles bis zu der Gegend welche jetzt die gadeirische heißt und von der damals so genannten diese Bezeichnung empfangen hat, als seinen Anteil erhielt, gab er in der Landessprache den Namen Gadeiros, welcher auf griechisch Eumelos lauten würde und auch jene Benennung des Landes hervorrufen sollte.“
Dabei irritiert folgender Nebensatz:
„… Den äußersten Teil der Insel, von den Säulen des Herakles bis zu der Gegend, welche jetzt die gadeirische heißt…“
Mit der „Insel“ ist nichts anderes als Atlantis gemeint. Die „Säulen des Herakles“ und die „gadeirische Gegend“ jedoch liegen im „äußersten Teil“ von Spanien, und das ist bis auf den heutigen Tag nicht im Ozean versunken. Auch ist es nur eine Halbinsel, wenn auch größer als alles, was Herodot als Eiland definiert. Hinzu kommt, daß nicht ganz klar ist, wie gut den alten Griechen die Küstenlinie im Bereich der Pyrenäen bekannt gewesen ist.

Atlantis also im äußersten Südwesten Europas? Wenn dort wirklich das mächtige Imperium gelegen haben soll, daß uns Plato beschrieben hat, dann müßte es Spuren hinterlassen haben.

Die Archäologie allerdings liefert uns ein recht differenziertes Bild. Die mesolithische Capsien- Kultur hatte die Region im siebten Jahrtausend vor Christus vom Atlas- Gebirge her erfaßt. Die Megalithiker hatten der Region ihren Stempel aufgedrückt. Und die Glockenbecher- Leute, die hier ihren Ursprung gehabt hatten, hatten dereinst den gesamten Westen Europas geprägt. Allerdings hatten sie weder über die Kulturstufe, noch über eine Hauptstadt verfügt, um sich ein Imperium zu schmieden. Auch in der Bronzezeit, die in der unmittelbaren Glockenbecher- Tradition stand, waren die Dichte der Besiedlung und die Höhe der Kultur regional sehr unterschiedlich. Sie orientierte sich an den Vorkommen von Lagerstätten und brauchbarem Ackerboden. Schon zu Beginn der Kupferverarbeitung gegen 3200 v. Chr. öffnete sich die Schere zwischen prosperierenden und verschlafenen Regionen mehr und mehr. Vor allem der Süden und der Südwesten gehörten zu den Motoren des Fortschritts.

Besonders bekannt ist eine größtenteils Glockenbecher- zeitliche Siedlung im Südosten nahe Los Millares (bei Almeria), die sich über zwei Hektar Küstenebene erstreckt hat. Sie ist gleich von einer dreifachen Stadtmauer aus Stein geschützt gewesen, die zusätzlich noch mit Türmen bestückt gewesen ist. Bei einem der Mauerringe konnte mittels der 14C- Datierung nachgewiesen werden, daß er gegen 3050 v. Chr. teilweise eingestürzt und wieder aufgebaut worden ist. Aus dem Torbogen ragte eine äußere Verteidigungsanlage hervor, die bestückt war mit Wachstuben und Schießscharten für die Bogenkämpfer. Diese Abwehrwälle verliefen mehr als 300 Meter über dem Fluß Andares, und überspannten dabei eine Begräbnisstätte, in der über 70 Personen beigesetzt worden sind. Neuere Zahlen sprechen von inzwischen über 100 aufgefundenen Grabstellen. Auf den Hügeln in der Nachbarschaft hatte man zusätzlich noch Zitadellen errichtet. Die Stadt selbst bestand aus runden, nicht sehr prächtigen Häusern und einer großen Kupferschmiede (Die dazugehörige Mine befand sich zwanzig Kilometer entfernt im Gebirge). Anhand der Verteilung der gefundenen Alltagsgegenstände (Vasen für Schminke und Duftöle, verzierte Becher, Schmuck und Gegenstände aus Kupfer) läßt sich auf unterschiedliche Vermögensverhältnisse der Bewohner schließen, und damit auf eine gesellschaftliche Schichtung.

Auch in der Nachbarschaft hat man ähnlich gut befestigte Ortschaften entdeckt, doch die nächste mit ähnlich groß dimensioniertem Grundriß findet sich erst Villa Nova de Sao Pedro und Zambujal in Portugal (also jenseits der Säulen des Herakles). Während der Expansion der Glockenbecher- Kultur gab es eine Blütezeit, die wohl mit den Fortschritten in der Metallverarbeitung und eventuell einem frühen, noch mehr regional geprägten Mittelmeerhandel zusammenhängt. Nichtsdestotrotz dominierte auch hier die Landwirtschaft. Man baute Weizen und Gerste an, und hielt vor allem Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen.

Mit dem Übergang zur Bronzezeit gegen 2000 v. Chr. scheint eine Krise eingesetzt zu haben, die sich an der Schrumpfung oder gar Aufgabe vieler Ortschaften ablesen läßt. Neue Siedlungsplätze wurden aufgesucht, die zum Teil nur wenige hundert Meter von den alten entfernt lagen. Religiöse Praktiken kamen auf, die bisher unbekannt waren, so etwa der Brauch, die Toten unter den Fußböden der Häuser zu bestatten. Die Unterschiede in den Riten lassen auf starke lokale Unterschiede schließen. Anhand der Grabbeigaben werden deutliche Unterschiede in Vermögen und Stand sichtbar: Neben Schwertern aus Bronze kennt man auch Schmuck aus Silber oder Gold. Bei Fuente Alamo (nahe Almeria) ist sogar ein abgetrenntes Reichenviertel aus Steinhäusern freigelegt worden, zu der mehrere Vorrats- und ein Wasserspeicher gehörten. Ähnliche Abgrenzungen konnten selbst bei kleineren Dörfern noch nachgewiesen werden. In feuchteren Regionen, insbesondere an der Atlantikküste, umgab man die Siedlungen mit Wassergräben. Die Metallverarbeitung war nahezu überall nachzuweisen, und man grub tiefe Stollen in die Berge auf der Suche nach Erzen. Im Nordwesten des Landes hat man wahre Schatzhorte gefunden. Selbst Goldfunde sind darunter (wobei das Edelmetall erst ab 1100 v. Chr. häufiger Verwendung gefunden hat). Es lassen sich Handelskontakte nach Frankreich und den britischen Inseln nachweisen (Das Zinn wurde wohl jetzt schon aus den Minen Cornwalls bezogen). Auch das Pferd fand als Nutztier eine rasche Verbreitung.

Diese Fortschritte beziehen sich – wie gesagt – auf den Süden und Westen der Halbinsel. Der dünn besiedelte Norden und Osten blieb von den Fortschritten weitgehend ausgespart.

Platos Aussage hat sich auf die „gadeirische“ Region bezogen, also auf den Südwesten zwischen Portugal und Gibraltar. Hier, am Fluß Guadalquivir, soll aber auch der Landstrich gelegen haben, durch den Spanien in die Geschichte eingetreten ist. Der Landstrich, der als „Tarsis/ Tarschisch“ und „Tartessos“ in den Schriften auftauchen wird. Herodot und Eurythemus von Massilia (und Strabo) erwähnen zudem eine Stadt, die an dieser Stelle gelegen haben soll. Nebenbei bemerkt, haben wir hier eine Ebene, die im Südwesten an den Atlantik grenzt, zu allen anderen Seiten aber von Bergen umgeben ist.

Auch manch anderes Detail deckt sich mit Platos Beschreibung von Atlantis. So erfreut sich die auf den uralten Kulten fußende Corrida bekanntermaßen auch heute noch großer Beliebtheit in Spanien.

Desweiteren ist der spanische Raum unter anderem bekannt für die feine Wolle der Merino- Schafe, was den griechischen Namen Eumelos begründen würde. Hier fehlen jedoch die paläozoologischen Belege: Selbst Schaf- und Ziegenknochen sind in manchen Fällen nicht klar voneinander zu trennen; da ist die Zuordnung von Rassen nahezu unmöglich.

Wir scheinen es bei den damaligen Einwohnern der Region allerdings weniger mit einem geeinten Volk zu tun zu haben, als mit einem lockeren Sammelsurium von Stämmen, die mehr in einem losen Bund miteinander operieren, denn unter der Führung eines überregionalen Monarchen. Die entwickelten Ortschaften an Nord-, Süd- und Ostküste schienen eher die Sitze örtlicher Stammeshäuptlinge gewesen zu sein, während der Norden und das Zentrum Spaniens ausgesprochen dünn besiedelt waren. In Zeiten und Regionen, in denen die Verbindung der einzelnen Bevölkerungsteile zueinander noch mit einigen Mühen verbunden ist, ist eine solch dezentrale Verwaltung von Vorteil. Wir haben auch am Beispiel der Kulturen an Donau und Indus gesehen, daß eine derart basis- republikanisch anmutende Verwaltung nicht unbedingt mit kultureller Rückständigkeit einher gehen muß. Freilich ist die Organisation größerer Menschenmassen für aufwendigere Gemeinschaftsprojekte und Truppenaufgebote ungleich komplexer, als auf Befehl eines zentralen Machtapparates hin. Daher haben zum Beispiel die Germanen, die in Friedenszeiten sämtliche wichtigen Angelegenheiten auf dem „Thing“ regelten, der Versammlung der freien Männer, im Kriegsfalle einen Herzog gewählt, der alle nötigen Kompetenzen in seiner Person bündelte.

Auch kulturell hob sich die spanische Bronzezeit zwar regional hervor, stand aber auf dem selben Niveau wie andere Zivilisationen derselben Zeit. So beispielsweise die von Mitteleuropa aus einsickernden Urnenfelder- Leute, in deren Verbreitungsgebiet sich später verschiedene indogermanische Völker herausbildeten. Im Vergleich zu den Reichen im Osten des Mittelmeeres waren die alten Hispanier immer noch deutlich rückständig. Von Kolonisationsbestrebungen dorthin, wie sie Atlantis zugeschrieben werden, kann überhaupt nicht die Rede sein.

Es wohl der Name eines Flusses, der einem oder mehreren der Stämme Iberiens den Namen gegeben hat, der schließlich auf alle Bewohner Südspaniens ausgedehnt worden ist. Der Guadalquivir, der zwischen Portugal und Gibraltar in den Atlantik fließt, wird bei Livius „Certis“ genannt, was (unter Berücksichtigung von Strabon) auf „Tertis“ zurückgeführt werden kann. In der Sprache der Einheimischen muß dieser Fluß – in punisch reduzierter Wiedergabe des Namens – „Trt“ oder „Trs“ gelautet haben – Ein Name, der dann auch für die Anwohner benutzt worden ist. Noch bei Polybios tragen die Eingeborenen am Nordufer einen anderen Namen als die am Südufer, aber beide lassen sich klar auf „Trt/ Trs“ zurückführen. Nach den „Trt/ Trs“- Leuten wurde schließlich auch das Land „Trt/ Trs“ benannt. In vielen Texten taucht auch eine Stadt dieses Namens auf, aber hierzu gibt es zumindest in archäologischer Hinsicht noch keine klaren Erkenntnisse.

Die Vertauschung von „t“ und „s“ ist übrigens ein Phänomen, das auf die ausländischen Berichterstatter zurückgeht, die ihre Schwierigkeiten mit den einheimischen Lauten hatten. Just die selben Verwechslungen sind auch aus Quellen bekannt, die sich mit Gallien oder der Ägäis befassen.

Für das Siedlungsgebiet dieser „Trt“/ „Trs“- Leute erwarb sich Adolf Schulten zwischen 1905 und 1911 einige Meriten als Archäologe. Im Mündungsbereich des Guadalquivir stieß er tatsächlich auf die Ruinen einer Stadt, die es von der Größe her mit ihren zeitgleichen Pendants im östlichen Mittelmeer hätte aufnehmen können. Zu seinen Funden gehören ein marmornes Relief und ein Ring, in denen nicht entschlüsselte Glyphen eingraviert sind. Damit scheint man auch hier schon eine Schrift gekannt zu haben.

Freilich werden diese Überreste in die Zeit zwischen 2500 und 1200 v. Chr. datiert – Damit ging der Ort nahezu gleichzeitig mit der bronzezeitlichen Welt des östlichen Mittelmeeres unter. Ein Zusammenhang mit dem „Seevölkersturm“ ist auf den ersten Blick nicht sehr wahrscheinlich. Aber dann wiederum gibt es die Legende, Etrusker hätten die Stadt Tartessos um 1200 v. Chr. neu gegründet. Was hatte das in Norditalien ansässige Volk im Südwesten Spaniens zu suchen? Nun, die Etrusker tauchten in den griechischen Quellen als „Tyrrhener“ bzw. „Tyrsener“ auf. Ausgerechnet sie werden mit dem „Trs“- Seevolk auf Pharao Merénptahs „Israel- Stele“ identifiziert, was als „Tursa“ bzw. „Turscha“ ausgesprochen worden ist. Diese „Trs“ überfielen das Reich am Nil vom Westen her, im Bündnis mit den Lukka (Lykern), Scheklesch (Sikuler = Sizilianern), Schirdana (Sarden), Akawascha (Achäer?) und libyschen Stämmen. Für die nächsten Jahrhunderte beherrschten die Tyrrhener das westliche Mittelmeer, daß es sogar nach ihnen benannt wurde. Dabei erwarben sie sich sowohl als Händler, als auch als Piraten einen Ruf. Und ja, ihr Machtbereich erstreckte sich bis nach Tyrrhenien (wo sie ja ansässig waren) und Ägypten (was sie schließlich zusammen mit anderen Seevölkern und libyschen Stämmen überfallen hatten)! Auch ihre Organisation als Bund von zwölf Städten (nach ionischem Vorbild) läßt sich mit der atlantischen Föderation aus zehn Königen vergleichen.

Daß die spanische Küste zu ihrem Einflußbereich gehört haben muß, läßt sich nachvollziehen. Die Stadt „Tarsis“/ „Tartessos“, die sie gegründet haben sollen, hat den gleichen bzw. einen ähnlichen Namen wie der Fluß („Tertis“/ „Certis“, heute: „Guadalquivir“), der darum liegende Landstrich und das Volk, das ihn bewohnt. „Trt“ und „Trs“ sind aber auch die israelitisch- phönizischen Schreibweisen von „Tarsis“/ „Tarschisch“, was sprachwissenschaftlich betrachtet der Eigenbezeichnung der Bewohner recht nahe kommen muß.

Demnach hätten die vorzeitlichen Südwestspanier den selben, oder zumindest einen ähnlich lautenden Namen gehabt, wie seinerzeit die Etrusker.

Woher die „Tursa“ kamen, ist ein Mysterium für sich. Ihre eigenen Überlieferungen sehen sie als frühere Nachbarn des weiland für seine Pferdezucht berühmten Ilion/ Troja. Immerhin siedelt eine hethitische Quelle (zum Feldzug Tudhalijas II. nach Kleinasien [Assuwa]) direkt neben Wilusa (als Ilion identifiziert) ein Taruisa (als Troja gedeutet) an. Auch „Taruisa“ läßt sich auf die Konsonantenfolge „Trs“ reduzieren.

Nebenbei bemerkt, ist die hethitische Vokabel Tar dem griechischen Tauros verwandt, und bezeichnet den Stiergott Tarhunta. Der Name taucht bei hethitischen und post- hethitischen Ortsbezeichnungen immer wieder auf (so Tarhuntassa für das Taurus- Gebirge, oder aber die Hafenstadt Tarsos).

Es gibt aber auch Forscher, die eine Herkunft der Etrusker aus der Ägäis nahelegen, zumal das Volk wie die Pelasger eine alteuropäische (also nicht indogermanische) Sprache gesprochen hat. Deswegen allerdings „Tyrrhener“ von „Therener“ herleiten zu wollen, ist doch ein bißchen viel der Buchstabenspielerei. Schließlich ist Delhi nicht Delphi, und Kiew auch nicht Kiel. Und letzten Endes darf man auch nicht vergessen, daß die „Tursa“ die Bezeichnungen „Tyrrhener“ und „Tyrsener“ von den Griechen erhalten haben (so wie „Tuscier“ und „Etrusker“ von den Römern). Sie selbst haben sich Rasenna genannt, und da braucht es schon ein Tarsenna und Tyrsenna als Zwischenstadium, um einen sprachwissenschaftlichen Bezug herzustellen.

Wie dem auch sei, die Archäologie stützt das Bild einer Einwanderung aus dem Osten nicht. Die „Terramare“- und „Villanova“- Kultur in Oberitalien lassen sich relativ störungsfrei verfolgen. Wenn die Etrusker nicht von Anfang an hier ansässig gewesen, sondern eingewandert sind, muß es sich um eine relativ kleine Zahl von Eroberern gehandelt haben, die relativ rasch von den Eingeborenen assimiliert worden sind. Ihr Name, ihre Sprache und ihre Traditionen sind geblieben, aber an spezifischem Fundmaterial haben sie nichts hinterlassen.

Etwas Ähnliches ließe sich dann auch für die Gegend zwischen Portugal und Gibraltar sagen: Wenn sich hier „Tursa“ angesiedelt haben, so müssen sie recht bald von den umwohnenden Völkern aufgesogen worden sein. Die Quellen der Antike unterscheiden zwar zwischen den Tartessern einerseits, und den übrigen Hispaniern und den Kelt- Iberern andererseits. Aber niemand kommt auf den Gedanken, sie als Volksgenossen der im ersten Jahrtausend vor Christus recht gut bekannten Etrusker anzusehen.

Denn die Ureinwohner waren unbezweifelbar Hispanier, auch Iberer genannt. Ihre Vorfahren, die Glockenbecher- Leute, hatten ganz Westeuropa ihren Stempel aufgedrückt, und doch weder ein Reich, noch eine Kapitale begründet. Nun gab es beides, aber von dem zu beherrschenden Imperium war nichts mehr übrig geblieben. Gerade mal der Süden Spaniens wurde von Tarschisch beherrscht, und auch das sollte sich ab 1100 v. Chr. mehr und mehr ändern.

Nichtsdestotrotz galt Tarschisch als sagenhaft reich, wobei insbesondere die Metallvorkommen den Wohlstand ausmachten. Nun gab es zwar einige ergiebige Minen im Süden Spaniens, aber archäologische Gemeinsamkeiten lassen vermuten, daß die Tartesser auch im Atlas- Gebirge Erz gefördert haben, und zwar insbesondere Kupfer. Und das wiederum schon seit der Glockenbecher- Ära.

Die Tartesser aber unternahmen auch Seereisen in andere Gebiete. Von dem Karthager Himilco, der allen Untersuchungen zufolge zu den Zinnminen von Cornwall gesegelt ist, wird überliefert, daß er einer ihrer Routen gefolgt ist. Und das noch nicht mal als Erster seines Volkes; er war lediglich der Einzige, von dem ein Bericht erhalten geblieben ist. Demnach hätte Tarschisch in seinem Einflußbereich also sowohl Zinn- als auch Kupferminen gehabt – Kein anderes Reich hatte über derlei ideale Voraussetzungen zur Herstellung von Bronze verfügt! Für die damalige Zeit gab es keine idealeren Voraussetzungen, um ein Vermögen anzuhäufen.

Es spricht einiges dafür, daß die Iberische Halbinsel in das weitreichende Handelsnetz der späten Bronzezeit eingebunden gewesen war, denn an der Ostküste sind Überreste mykenischer Stützpunkte oder Siedlungen gefunden worden. Auch die Sage von Herakles‘ Besuchen bei Geryon und im Garten der Hesperiden deutet eben darauf hin, daß es Fahrten in den äußersten Westen der damaligen Welt gegeben haben muß.

Die mykenischen Griechen (bzw. „Ahhijawa“ [Achäer] nach hethitischen Quellen) haben das Seereich der Minoer übernommen, und damit vermutlich auch das Wissen um die wirtschaftlich ertragreichen Routen. Daß die Kreter bereits ihre Erfahrungen mit Katastrophen gesammelt hatten, wissen wir. Der Vulkanausbruch von Thera/ Santorin hat sich dabei nicht so verheerend ausgewirkt wie ein Erdbeben gegen 1425 oder 1415 v. Chr., der die Paläste Kretas so sehr zerstörte, daß sie nicht mehr aufgebaut wurden. Zu dieser Zeit aber war ihr Imperium bereits fest in griechischer Hand gewesen.

Wenn man den Theseus- Mythos ernst nimmt, hat das bronzezeitliche Athen bei der Übernahme Kretas eine prominente Rolle gespielt. Damit wäre aber auch zu erwarten, daß sie zu denen gehört haben, die das minoische Handelsnetz übernahmen. Also müßten die mykenischen Kontakte zur ostspanischen Küste auch ihnen bekannt gewesen sein.

Wie dem auch sei, die als „Seevölkersturm“ bekannt gewordene Völkerwanderung fegte früh im zwölften Jahrhundert vor Christus über den gesamten Osten des Mittelmeeres, vernichtete Großmächte und Kleinstaaten, läutete das unwiderrufliche Ende der Bronzezeit ein und bereitete dem überregionalen Handel ein abruptes Ende. Gerade die Achäer/ Ahhijawa waren unter den ersten Leidtragenden: Sie verloren ihre Schrift, ihre Macht und stellenweise sogar ihre Zivilisation. Wo man vorher noch mit Großkönigen und Pharaonen verkehrt hatte, da kam man nun in manchen Gegenden gar von der Landwirtschaft ab. Griechenland versank für nahezu ein halbes Jahrtausend ins „dunkle Zeitalter“, und darüber starb natürlich auch der Schiffsverkehr in die weite Ferne. Der entlegene Westen war unerreichbar geworden, just als wäre er im Meer versunken. Ein halbes Jahrtausend mag durchaus reichen, um aus einem exotischen Land ein verwunschenes Utopia zu machen. Aber bei Licht betrachtet ist diese Begründung doch ein wenig arg weit hergeholt.

Doch wo die Mykener die Bühne verlassen hatten, nahmen schon ziemlich bald die Phönizier ihren Platz ein. Vielleicht wußten sie von den gewinnbringenden Routen ihrer Vorgänger, sei es, weil sie als Hafenstädte selbst am Warenverkehr Anteil hatten, sei es, weil mykenische und pelasgische Flüchtlinge bei ihnen Zuflucht gefunden haben mochten. Es kann aber auch sein, daß die Phönizier mit der ihnen eigenen Mischung aus Entdeckerlust und kaufmännischem Geist von selbst bis in den Atlantik vorgedrungen sind.

Obwohl die iberische Halbinsel in der Antike immer ein wenig abseits des Geschehens gelegen hat, wird sie gleich bei zwei Völkern regelmäßig erwähnt, die weit am anderen Ende des Mittelmeeres ihre Heimstatt haben. Logisch wäre ein ganzes Sammelsurium an Quellen bei den Phöniziern (und den zu ihnen gehörenden Karthagern), aber obwohl es diese mit Sicherheit gegeben hat, hat nichts davon in unsere Tage überdauert. Dafür aber findet sich Material bei den Griechen, und noch viel älteres bei einem Volk, bei dem man es wohl nicht erwartet hätte: Den Israeliten! Nachdem der König David um das Jahr 1000 v. Chr. herum ein Reich errichtet hatte, das sich der Überlieferung nach vom Euphrat bis an den Golf von Akaba erstreckt haben soll, war es sein Sohn Salomon, der diesem Imperium Glanz und Würde verlieh. Dazu gehörte natürlich auch ein gewisser Prunk und Reichtum, um im Konzert der damaligen Großmächte ernst genommen zu werden. Freilich hatten die Israeliten als ehemalige Wüstennomaden keine große Erfahrung im Seehandel, also tat sich Salomon mit seinem Nachbarn zusammen, nämlich Hiram, dem König des phönizischen Tyros (oder „Tr“). Er hatte das Geld, Hiram die Schiffe und das Know-how. Und wo der eine das Mittelmeer wie seine Westentasche kannte, hatte der andere mit der Stadt Ezeon- Geber (später mit Akaba und Elath) einen Hafen, über den man ins Rote Meer, und damit zu den Ländern Punt und Ophir gelangen konnte, die einen mindestens ebenso sagenhaften Ruf hatten wie Tartessos/ Tarschisch selbst.

So unternahmen Israel und Tyros in der Ära von Salomon und Hiram gleich mehrmals Handelsexpeditionen in den fernen Westen, die im Alten Testament als „Tarschisch- Fahrten“ bezeichnet werden. Wenn man eine solch große Distanz in Kauf nimmt, läuft dies zwar über eine Menge von Zwischenstationen, an denen man auch Geschäfte tätigt, aber nichtsdestotrotz ist dies mit einem Aufwand verbunden, der sich lohnen muß. Tarschisch war zu dieser Zeit berühmt wegen seines Reichtums an Bodenschätzen. Insbesondere die Silbervorkommen werden in israelitischen und griechischen Quellen gleichermaßen gepriesen, aber nicht nur. So trug der jüdischen Hohepriesters einen Edelstein mit Namen „Tarsis“ am Brustschild.

Einmal alle drei Jahre soll die Flotte Salomons wieder in der Heimat eingetroffen sein, und dabei unter anderem Gold, Silber, Elfenbein, Affen und Hühnervögel mitgebracht haben. Zumindest der Elfenbein und wohl auch die Affen dürften eher von einer der Zwischenstationen her stammen, als aus dem früh- spanischen Raum selbst (oder handelt es sich bei den Affen um die Makaken von Gibraltar?). Bei Ezechiel werden außerdem noch Zinn und Blei genannt.

Die erwähnten Stoßzähne, die wohl aus Nordafrika bezogen worden waren, mögen mit beigetragen haben zu einem Mythos, im Westen der Welt würde es frei lebende Rüsseltiere geben.

Auf jeden Fall verwundert es nicht, daß sich die Phönizier dort festsetzten: Die Stadt Gades/ Gadeira war bereits um 1100 v. Chr. gegründet worden. Ihre Lage auf einer Insel vor der Mündung des Certis/ Guadalquivir ist gewiß nicht zufällig geschehen. Hinzu kommen eine Reihe von Handelsfaktoreien entlang der spanischen Südküste (unweit des heutigen Málaga), die aber vermutlich erst zwischen 800 und 775 v. Chr., als die Assyrer die Levante eroberten, durch Aufnahme von Flüchtlingen zu Städten anwuchsen.

Auf diesem Wege erfuhren nun auch die Assyrer, daß es dort im fernen Okzident noch etwas gab, und so prahlte ihr Oberhaupt Asarhaddon im Jahre 671 v. Chr. auf einer Bauinschrift in Assur: „Alle Könige, die mitten im Meer wohnen, von Kypros und Jawan bis nach Tarsis, unterwarfen sich meinen Füßen. Ihren schweren Tribut nahm ich in Empfang. Über die Könige der vier Weltufer trug ich den Sieg davon.“

Mag sein, daß man ihm aus Tars(ch)is(ch)/ Tartessos Geschenke geschickt hat, um ihn als Potentaten zu ehren, aber erobert hatte er die Gegend gewiß nicht. Vielleicht hatte er auch nur die Ladung eines Seglers beschlagnahmt, der Ware von dort mit sich geführt hatte. Oder aber er hatte den Besitz derjenigen konfisziert, die in Richtung Gibraltar geflüchtet waren, und damit als „Tartesser“ gelten konnten. Mag auch sein, daß er sich nach der Einnahme der phönizischen Städte gleichfalls als Herr über all ihre Kolonien gefühlt hat. Am wahrscheinlichsten aber ist, daß der Name des Landes nur aufgeführt worden ist, weil es weit entfernt lag, so daß die bloße Erwähnung den Ruhm des Souveräns stärkte. Wer die „vier Weltufer“ beherrscht, beherrscht praktisch die Welt selbst. Die Wendung „Tribut nehmen“ würde in diesem Fall dann bedeuten: „Seine Exzellenz hat das Gebiet nicht erobert, möchte aber trotzdem so tun als ob“.

Schließlich wird in der besagten Inschrift auch „Jawan“ aufgeführt. Dieser Name leitet sich von den „Ahhijawa“ her, also den alten Achäern. Und die Griechen dieser Epoche wußten nicht das Geringste davon, daß sie Untertanen eines wichtigtuerischen Potentaten am fernen Tigris sein sollten.

Was die Israeliten anbelangt, so hatte die Teilung des Reiches in einen Nord- und einen Südstaat (Israel und Juda) schon viel früher den Verlust der imperialen Herrlichkeit nach sich gezogen. Echte „Tarschisch- Fahrten“ waren keine mehr unternommen worden, und so nannte man schließlich jeden für längere Strecken ausgerüsteten Handelskahn „Tarschisch- Schiff“. Mit der Babylonischen Gefangenschaft schließlich ging die Kenntnis von dem fernen Land vollends verloren.

Dieses aber geriet durch die Zunahme der levantinischen Bevölkerung selbst in die Bredouille. Es geriet in eine Auseinandersetzung mit den phönizischen Kolonien, welche die Karthager herbeiriefen. Die entschieden den Konflikt zugunsten der Neusiedler, blieben aber vor Ort, so daß sich auch Gades und die übrigen „Gewinner“ des Krieges unverhofft als Eroberte wiederfanden. Nichtsdestotrotz behielten Volk und Region ihren einheimischen Namen noch bis zur römischen Eroberung während des Zweiten Punischen Krieges. Ja, es ist nicht auszuschließen, daß erst die Karthager damit angefangen haben, den gesamten Süden der Halbinsel (und nicht nur die Ufer des Certis/ Guadalquivir) „Tarschisch“ zu nennen.

In der Zwischenzeit kehrten ab dem neunten Jahrhundert vor Christus nach und nach die Griechen zurück. Ab 800 v. Chr. gab es erste griechische Gründungen im Nordosten Iberiens. Aber erst nach 600 v. Chr. fingen sie an, mit der phokaischen Gründung Massilia (Marseille) als Brückenkopf langlebigere Kolonien zu gründen. Und auch dabei beschränkten sie sich auf den Nordosten der Halbinsel, um den Kriegsschiffen Karthagos aus dem Weg zu gehen.

Um diese Zeit ist eine einheimische Alphabet- Schrift nachgewiesen (tartessische oder südwestliche Schrift). Sie wich im fünften vorchristlichen Jahrhundert der bastulo- turdetanischen oder iberischen Schrift, die wiederum bis 425 v. Chr. von der levantinisch- iberischen Schrift abgelöst werden – Die letzten beiden stellten eine Mischung aus Buchstaben- und Silbenschrift dar. Wie zu erahnen, machte sich hier der phönizische Einfluß geltend, aber auch die früheuropäischen Schriften, allen voran das Zypriotische (und hinten dran das Minoische), hatten deutliche Spuren hinterlassen.

Gegen 450 v. Chr. kehrte Herodot während einer seiner Reisen in einer Hafenpinte auf der Insel Samos ein. Hier erzählte man ihm von einem Kapitän Kolaios, den eine einzige Handelsfahrt nach „Tartessos“ hinter den Säulen des Herakles unermeßlich reich gemacht haben soll. Dabei wäre er ursprünglich auf dem Weg nach Ägypten gewesen, aber ein Sturm habe ihn (mit dem Eiland Platea als Zwischenstation) so weit nach Westen abgetrieben, daß er sich schließlich bei der berühmten Meerenge in den Atlantik wiedergefunden habe.

Des weiteren erfahren wir von unserem griechischen Historiker und Kneipengänger, daß die Kultur der Tartesser dermaßen alt sei, daß ihre Gesetze schon seit sechs Jahrtausenden Gültigkeit besäßen. Auch würden sie von Königen regiert, darunter Geryon/ Gayon aus der Herakles- Sage und Arganthonios, bei dem Kolaios zu Gast gewesen sei.

Aber Herodot erwähnt an anderer Stelle noch, daß die Einwohner des ionischen Phokaia die ersten Griechen gewesen wären, die weite Seereisen unternommen hätten. Dabei hätten sie die Adria entdeckt, Etrurien, Iberien und auch Tartessos. Mit dem dort herrschenden König Arganthonius, der Sage und Schreibe von 650 bis 530 v. Chr. gelegt, und 80 Jahre in Amt und Würden gestanden haben soll, hätten sie Freundschaft geschlossen. Ja, er hätte ihnen angeboten, bei ihm zu siedeln, und als sie ihm ihre Problemen mit den umtriebigen Medern geklagt hätten, hätte er ihnen genügend Gold zum Bau einer mächtigen Stadtmauer geschenkt.

Wir wollen nicht darüber spekulieren, was das wohl für ein Sturm gewesen sein soll, der jenen ach so arglosen Seemann mal kurz 35 Längengrade westwärts geblasen hat. Und ob man im Alter von 120 Jahren senil genug ist, um wildfremde Matrosen mit Schätzen zu überhäufen. Was aus diesen Erzählungen heraus scheint, ist, daß der Name „Tartessos“ für die Samier und Phokaier Mitte des fünften Jahrhunderts vor Christus bereits eine bekannte Größe gewesen ist. Man brachte die Region in Verbindung mit einer entlegenen Lage und einem sagenhaften Wohlstand. Ob die Erwähnung der „zwei Jahrhunderte“ glaubhaft ist, läßt sich schwer nachprüfen, doch dürfte der Name der Stadt den Samiern und Phokaiern zumindest geläufig gewesen sein. Daß sie nicht zum regulären Handelsnetz der griechischen Kaufleute gehörte, lag neben der großen Entfernung vor allem daran, daß die Karthager den umgebenden Seeraum für sich reklamiert, und für alle anderen gesperrt hatten.

Am Rande interessant sein mag, daß die Endung „-ssos“ nicht griechisch ist, sondern pelasgisch/ minoisch, also vor- griechisch (wie z. B. Lehnworte a là „Thalassa“ [Meer], „Knossos“ [Labyrinth] oder „Narkissos“ [Narzisse]). Begriffe aus der Seefahrt gehörten zu den Vokabeln, welche die zu Lande eingewanderten Ur- Griechen bevorzugt von den Einheimischen übernommen haben. So ist es auch vorstellbar, daß der Name „Tartessos“ für „Tarschisch“ schon bekannt gewesen ist, bevor die Indogermanen auf den Plan getreten sind. Belege gibt es hierfür allerdings nicht, denn erst gegen Ende der Bronzezeit (um 1300 bis kurz nach 1200 v. Chr.) tauchen in den ägyptischen Quellen Namen von Völkern auf, die im westlichen Mittelmeer heimisch waren. Es gibt keine archäologischen Hinweise dafür, daß die Minoer jemals westlich der Meerenge zwischen Sizilien und Tunesien vorgedrungen sind. Gleiches gilt für den umgekehrten Weg, also von Südspanien nach Kreta. Außerdem taucht die „-ssos“- Endung bei Tartessos erst relativ spät auf, so daß es sich auch um eine spätere Angleichung an die griechische Sprache gehandelt haben mag.

Eine Stadt dieses Namens wird gesichert nur bei Herodot (und eventuell bei Avien und Strabo) erwähnt. Sie soll an der Mündung des Guadalquivir (Certis/ Tertis) gelegen haben, wo Aviens Ora maritima von einer Siedlung zu berichten weiß (bei ihr wird sie allerdings mit dem phönizischen Gades/ Gadeira verwechselt). Bei Strabo findet sich noch das Detail, daß sich die Kapitale der Region zwischen zwei Mündungsarmen befunden haben soll. Dies ließe sich auch ohne viel Phantasie als Insellage interpretieren.

Eurythemus von Massilia, ein Zeitgenosse Herodots, will an der Atlantikküste gar selbst eine Stadt im Mündungsdelta eines Flusses erblickt haben, an dessen prächtige Mauern der Ozean beständig Metallsplitter anspülen würde.

Zwar ist anzunehmen, daß die „Trt/ Trs“- Leute spätestens ab dem siebten vorchristlichen Jahrhundert über einen Hauptort verfügt haben, aber ob das die erwähnte Siedlung gewesen ist, oder ob wir es nur mit einem Handelshafen zu tun haben, ist unklar. Spätestens zu Zeiten des Hekataios von Milet ist noch von anderen tartessischen (bzw. mastienischen) Kommunen die Rede. Doch sowohl Poseidonius und Strabon, als auch Ptolemaios sehen das Tal des Guadalquivir als Zentrum des Siedlungsraumes. Ob es also ein „Tartessos City“ gegeben hat, das möglicherweise zerstört worden ist, können wir nichts Sicheres sagen.

Doch was ist aus ihnen geworden, den „Trs“ oder „Trt“ von Tarschisch/ Tartessos? Nun, noch im zweiten römisch- karthagischen Vertrag taucht eine Wendung auf, die mal als „Mastia und Tareseion“ übersetzt wird, und mal als „Mastia der Tarseier (= Tartessier)“. Mastia heißt die Metropole der Mastiener, eines Stammes im Südosten der Iberischen Halbinsel siedelte. Durch Verwechslung von „M“ und „B“ wurden aus ihnen die „Bastuler“ bzw. „Bastetaner“, die der römischen Provinz Baetica ihren Namen geben sollten. Sie wurden anderen Stämmen der Region (Cilbicener, Elbestier etc.) gegenüber abgesetzt, aber zusammen mit ihnen in dem Gebiet der „Trt/ Trs“ Gebiet lokalisiert. Sowohl bei Theopomp von Chios, als auch in dem oben erwähnten Vertrag gelten die Mastier als Einwohner von Tarschisch. Es mag sein, daß sie von den Tartessern erobert worden sind, oder aber in deren Namen von Karthago. Polybios auf jeden Fall schreibt, daß das Gebiet der „Turditaner“ (was sich gleichfalls von „Trt/ Trs“ herleitet, aber auch mit der Stadt Turbula zu tun haben kann) bis nach Sagunt reiche, also bis an die Mitte der spanischen Ostküste.

Auch nach der römischen Okkupation waren die Turdules oder Turditanes noch nicht von der Bildfläche verschwunden. In der Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Christus erwähnt sie der Historiker Polybios noch als Bewohner der römischen Provinz Baetica (Südspanien). Cicero (106 – 43 v. Chr.) gar neckte den aus Gades stammenden Cornelius Balbus als „Tartessier“. Für ein untergegangenes Volk, wie es die Atlanter gewesen sein sollen, haben sie sich als außerordentlich langlebig erwiesen.

Von einem Volk dieses Namens hören wir zu dieser Zeit freilich nichts mehr. Was immer als „Trs/ Trt“ im Süden Spaniens gelebt hat, ist zur Zeit Ciceros bereits mit Puniern, Hispaniern, Kelt- Iberen, Lusitaniern, Griechen und sonstigen Einwohnern zur römischen Provinzialbevölkerung verschmolzen. So kann Diodorus Siculus bereits eine Generation nach Cicero darüber spekulieren, ob es sich bei Tartessos nicht vielleicht doch um das Inselreich von Plato gehandelt handeln mag.

Der allerdings aber hat von den „Bewohnern von Atlas‘ Insel“ geschrieben, nicht von den Tartessern, Tarschern oder Turdulern an der Mündung des Tertis (Guadalquivir). Denn die waren zu seiner Zeit noch ausgesprochen lebendig. Allerdings hatten sie den Ruf, ein wenig exotisch zu sein, weil sie im äußersten Westen der damals bekannten Welt wohnten. Und die wurde aufgrund der phönizisch- karthagischen Dominanz nicht regelmäßig von griechischen Handelsschiffen angelaufen. Auch Herodots „Atalanten“ galten als Bewohner des entlegensten Abendlandes, so daß man es sich vorstellen kann, daß Plato beide Völker miteinander verwechselt haben kann. Zumal die Südspanier (und erst recht die Phönizier) die Minen des Maghreb ausgiebig genutzt haben dürften, um ihren Reichtum zu begründen. Herodot selbst weiß von ihnen nur durch eine Kneipenerzählung.

Doch andererseits waren die Tartesser auch keine völlig Fremden. Die Mykener hatten den Osten der Iberischen Halbinsel bereits erreicht. Ab 800 v. Chr., und verstärkt nach 600 v. Chr. drangen sie erneut in diese Region vor und gründeten sogar Kolonien. Daß es hier keinerlei Kontakte zwischen dem Osten und dem Süden des Landes gegeben haben soll, ist auch in Anbetracht der karthagischen Präsenz kaum vorstellbar.

Aber auch weitere Details sprechen gegen eine Identifikation von Tarschisch/ Tartessos als Atlantis. So hat Plato über einen Bund von Königen unter einem mächtigen Ober- oder Großkönig geschrieben, nicht über Häuptlinge von Karthagos Gnaden. Er hat eine mächtige, expansive Hochkultur geschildert, und keinen spanischen Hinterwald. Und sein Inselreich war ein Opfer der Fluten geworden; vom Meeresboden aus läßt sich schlecht eine Stadtmauer für Phokaia spendieren.

Eventuell ist auch die Archäologie inzwischen in der Lage, einen konkreten Beitrag zu dem Thema zu leisten. Neuerdings wird ein Fundplatz beim Kastell Dona Blanca mit der Stadt Tartessos identifiziert. Die Überreste erstrecken sich über eine Fläche von fünf Hektar auf einem künstlichen Hügel 34 Meter oberhalb des Meeres. Den alluvialen Ablagerungen des Guadalquivir zufolge, muß sich diese Ortschaft zum Zeitpunkt der Gründung unmittelbar an der Küste befunden haben. Das Fundspektrum spricht für eine rein phönizische Bürgerschaft.

Der früheste Siedlungshorizont ist auf die Jahre um 800 v. Chr. datiert worden, kurz vor Bau der (einzelnen) Stadtmauer, der späteste auf das dritte Jahrhundert vor Christus. Dabei wurde die Umfassungsmauer zweimal erneuert, und auch der Stadtplan selbst deutlich umgestaltet. Die Gebäudegrundrisse sind recht gut erhalten, bis hin zu einer steinernen Weinpresse. Vermutlich ist die Stätte im Verlauf des zweiten Punischen Krieges aufgegeben worden.

Noch ältere Spuren lassen erkennen, daß an der Stelle schon in der späten Glockenbecher- Periode (Ende drittes Jahrtausend – 1800 v. Chr.) ein Dorf oder Weiler gestanden hat, wie erhalten gebliebene Böden von Hütten zeigen. An der Ostseite der Erhebung sind Reste einer Art Stadtmauer gefunden worden, die Ähnlichkeit mit derjenigen des gleichzeitigen Troja gehabt hat. Ab da jedoch fehlen Spuren, so daß angenommen werden muß, daß hier bis 800 v. Chr. niemand mehr gewohnt hat. Allerdings gibt es in der Nähe (im „Las Cumbres“- Gebiet) einen Friedhof, der sich über 100 Hektar erstreckt, und die enorme Zeitspanne von der Bronzezeit bis in die Ära Hannibals umfaßt.

Noch ist diese Identifikation nicht gesichert; Hepkes Abhandlung führt zwar aus, daß die tartessische Schrift phönizische Zeichen benutzt, und auch, daß der Gott der Stadt Baal Melkart gewesen ist (wobei er an dieser Stelle seltsamerweise nach Gades/ Cadiz wechselt). Aber weder schreibt er etwas über Inschriften, welche die Zuordnung eines Tempels zu dem Götzen bestimmen, noch etwas über sonstige schriftliche Zeugnisse im Fundspektrum. Wäre irgendwo ein „TRS“ oder „TRT“ als Stadtname angebracht gewesen, hätte es Herr Hepke in seiner Abhandlung gewiß nicht verschwiegen. Auch spricht die rein punische Bevölkerung gegen die Annahme, wir hätten es hier mit dem Zentrum eines hispanischen Volkes zu tun. Und die späte Gründung gegen 800 v. Chr. fällt in eine Zeit, in der Hiram von Tyros und Salomo von Israel längst schon Geschichte waren.

Sollte sich die Identifikation mit Tartessos trotzdem bewahrheiten, so ist auch die mögliche Verknüpfung mit Atlantis torpediert. Weder die einfache Stadtmauer, noch die Gliederung der Viertel weist auf die bei Plato beschriebene Stadt hin. Ohnehin scheint der Ort stark im Schatten von Gades/ Cadiz gestanden zu haben. Aber die Phönizier waren schon immer die Erzfeinde der Griechen gewesen, just so, wie in grauer Vorzeit angeblich ein Eiland namens Atlantis.

Aber dann haben wir ja noch ganz in der Nähe Land von Werner Wickboldt und Rainer Kühne (Siehe oben, im Kapitel über das postglaziale Europa), auf dem deutlich eine Ringstruktur zu erkennen gewesen ist, und das nach Ende der letzten Eiszeit überflutet worden ist. Durch seine Lage vor der Mündung des Guadalquivir mochte man es von den ein- und auslaufenden Handelsschiffen aus am Meeresgrund ausmachen, was der Legende von einem versunkenen Königreich gewiß Nahrung verabreicht hätte. Bei manchen Wetterlagen oder hoher Sedimentfracht des Flusses mag aber auch „der sehr hoch aufgehäufte Schlamm“ die Sicht auf jenem mysteriösen Ort tief unten am Grund der See verschleiert haben.

 

 

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