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Krieg um Troja - 6 König Homer und der mannigfaltige Priamos: Personennamen in Mythos und Geschichte

Krieg um Troja6. König Homer und der mannigfaltige Priamos:
Personennamen in Mythos und Geschichte

a.) Zorro, Robin Hood und der Trojanische Krieg
Einen Zorro hat es nie gegeben. Für Siegfried gibt es keine geschichtlichen Belege, wohl aber für viele der bei den Nibelungen auftauchenden Nebenfiguren. Was Robin Hood anbelangt, gibt es gleich mehrere mögliche Vorbilder, aber nicht einmal die Einordnung in die Ära König Richard Löwenherz‘ ist sicher.


Till Eulenspiegel schließlich läßt sich möglicherweise als der Thile van Cnetlinge aus dem Urkundenbuch der Stadt Braunschweig identifizieren. Und der Roland aus dem Rolandslied gar hat als „Hruotland“ (um 736 – 778) wirklich gelebt.

Es gibt also keine feste Regel, ob es sich bei einer Sage stets um pure Fiktion oder Echos realer Begebenheiten handelt. Wie aber ist es da um ein Epos bestellt, das noch an die zwei Jahrtausende vor Roland angesiedelt ist? Das in einer Zeit an einem Ort spielt, von dem uns nichts Schriftliches erhalten geblieben ist?

Wieder bleiben uns nur die ausländischen Quellen. Aber den Gefallen, Königslisten von Ahhijawa oder Wilusa festzuhalten, tun sie uns leider nicht. Zumal die diplomatische Korrespondenz die Äonen seit damals in der Mehrzahl der Fälle bestenfalls lückenhaft überstanden hat. Nur hier und da taucht einmal ein Name auf, und das für einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, während der Trojanische Krieg gerade mal ein Jahrzehnt gedauert haben soll. Und das wohl auch noch zur Zeit des Seevölkersturms, der so viele Quellen zum Verstummen bringt. Es würde da fast schon einem Wunder gleichkommen, sollte irgendwo tatsächlich der Herrscher eines unbedeutenden Königreichs im Süden Thessaliens erwähnt werden. Einer mit Namen „Achilles“, der zudem kaum Regierungsgeschäfte getätigt und Dokumente ausgestellt haben dürfte, wo er doch zumeist im „Mädchenpensionat“ auf Skyros, oder aber vor Troja geweilt hätte.

b.) Achilles und Paris/ Alexander: historische Tatsachen
Nun, wie es das Schicksal so will, ist „Achilles“ in der Silbenkombination „A Ki Re U“ (Linearschrift B) trotzdem kein Unbekannter, ja, die mykenischen Tontafeln um 1200 v. Chr. kennen sogar mehrere Personen dieses Namens. Nur ist von diesen eben keiner ein König der Myrmidonen. Was damals in den griechischen Palästen festgehalten worden ist, waren halt keine diplomatischen Schriftwechsel, sondern simple Hausaltsaufstellungen, auf denen auch Arbeiter und Sklaven gelistet waren.

Ein anderer Name von Interesse, der hier auftaucht, ist „Alexandra“ (übersetzt: „Die Männer Abwehrende“) als weibliche Form von „Alexander“. Dies ist deswegen von Bedeutung, weil es im 13. Jahrhundert einen König von Wilusa gab, der den Namen „Alaksandu“ trug, und Homers Prinz von Troja „Paris“ und „Alexander“ genannt wurde. Freilich regierte Alaksandu etwa 80 Jahre vor dem Datum, an dem Troia VIIa in Schutt und Asche fiel. Das bedeutet freilich nicht, daß es nicht auch einen Alaksandu II. oder III. gegeben haben mag. Oder daß sich die Erinnerung an ihn mit späteren Ereignissen vermischt haben. Ohnehin nährt der Doppelname „Paris Alexander“ den Verdacht, daß hier zwei historische Figuren miteinander verschmolzen sein könnten.

Ein Zuname „Paris“ könnte aber auch den Zweck gehabt haben, einen Alexander von einem Ahnen gleichen Namens zu unterscheiden. Auch ist es denkbar, daß aus dem Namen „Alaksandu“ eine Art Königstitel geworden ist, den auch Nachfolger verwendeten. Etwas Derartiges kennt man von den Hethitern, wo aus dem Eigennamen „Labarna“ ein allgemein gebräuchlicher Herrschertitel geworden ist. Und schließlich war auch der „Caesar“ („Kaiser“/ „Zar“) ursprünglich nur der Beiname eines einzelnen römischen Heerführers. Und er blieb auch in dieser Funktion in Gebrauch: Cesare Borgia war zwar ebenfalls ein Heerführer Roms (gut anderthalb Jahrtausende später), aber „Cesare“ war tatsächlich einfach nur sein Vorname.

Gibt es aber auch Belege für den Namen „Paris“? Leider nicht im Zusammenhang mit Alaksandu. Dieter Hertel führt den luwischen Namen „Pariziti“ an, schreibt aber nichts über den historischen Kontext. Dafür taucht in den hethitischen Quellen ein „Parhuitta“ auf, der allerdings auch „Mashuitta“ gehießen haben könnte. Er war der Großkönig von Mira, und das interessanterweise genau in der Zeit kurz nach 1200, in welcher Troia VIIa zerstört worden ist. Mira war ursprünglich ein südwestlicher Teilstaat Arzawas, doch da er den Titel Großkönig führt, ist davon auszugehen, daß auch Mira nun zu einem größeren Reich angewachsen war. Einem, dem möglicherweise auch die Troas angehörte.

Doch von Parhuitta/ Mashuitta ist kein an „Alexander“ erinnernder Zuname oder Titel bekannt. Genau genommen weiß man eigentlich nur, daß es ihn gegeben hat.

Was Wilusa/ Taruisa selbst anbelangt, so sind uns neben Alaksandu noch die Namen zweier weiterer Potentaten überliefert worden. Selbstredend streitet Hertel es pauschal ab, daß sie in welcher Form auch immer in den Überlieferungen zum Trojanischen Krieg auftauchen. Es geht hier zum einen um Kukkunni, Vorgänger (und wohl auch Vater) von Alaksandu, der mit dem hethitischen Großkönig Suppiluliuma I. freundschaftlich verkehrt hatte, und um Walmu, der zwischen 1237 und 1209 gestürzt wurde, aber mit Hilfe aus Hattusa seinen Thron zurückerhielt. In der Tat taucht keiner der beiden Potentaten in der Ilias auf… zumindest nicht wortwörtlich.

Hertel lässt jedoch nicht erkennen, ob er Untersuchungen angestrengt hat, um seine Behauptung zu untermauern. Er führt keine möglichen Übersetzungen oder Übertragungen jener Königsnamen ins Griechische an, die sich in der Ilias nicht finden. Und umgekehrt analysiert er auch nicht, warum z. B. in der Dichtung erwähnte trojanische Herrschernamen wie „Laomedon“ und „Podarkes“ keine luwischen Wurzeln haben könnten. Auf einer solchen Basis definitive Aussagen zu treffen, würde allerdings mehr einem Hohepriester, denn einem Forscher zu Gesicht stehen. Schließlich ist es die Hauptaufgabe der Religion, Antworten zu geben, die der Wissenschaft jedoch ist es, Fragen zu stellen. Wissenschaft ist nicht Wahrheit, sondern die Suche danach.

c.) Kukunni und Muwattali: Wie man über die Warteliste doch noch in den Mythos findet!

In der Tat ist Latacz auf einige interessante Namen gestoßen, die Hertels Dogma relativieren. So ist „im griechischen Mythos“ von dem Trojanischen Helden „Kyknos“ die Rede, den Achilles aber schon recht früh erschlagen haben soll. „Kyknos“ wäre das griechische Äquivalent zu „Kukkunni“.

Auch die Hethiter selbst, die als Oberherren Wilusas gewiß nicht aus dem Krieg heraus gehalten hätten, meint er, nachweisen zu können. Es gäbe „eine Lokaltradition in Karien“, die „ein später Autor“ als „griechische Sage“ überliefert hätte. Ihr zufolge wären Paris Alexander und Helena von einem „Herrn Motulos“ empfangen worden. Dieser könne laut Latacz „kein anderer sein als der König Muwattali, der mit Alaksandu den Vertrag geschlossen hat.“

Freilich hat dieser „Herr Motulos“ nicht ins spätere Kampfgeschehen eingegriffen. Auch ist die Anrede „Herr“ recht indifferent: Im Deutschen zum Beispiel kann sie den einfachen Mann auf der Straße bezeichnen, aber auch den Fürsten und sogar die Gottheit. Desweiteren hieß der Herrscher an dem Datum, an dem Troja VIIa in Schutt und Asche fiel, nicht „Muwattali (II.)“, sondern „Suppiluliuma (II.)“, und einen „Sopilylemos“ (oder ähnlich) kennen weder die Epen Homers, noch die seiner Nachfolger.

Vor allem aber stellt sich die Frage, wieso Kukkunni und Muwattalli II., die in der Geschichte Wilusas doch so eine große Rolle gespielt haben, in den trojanischen Mythen nur unter „ferner liefen“ aufkreuzen sollen. Nicht einmal in der Liste der Verbündeten Ilions, die dem Schiffskatalog der Achäer gegenüber gestellt wird, tauchen sie auf.

Allerdings muss man an dieser Stelle anmerken, daß viele nicht griechische Kämpen rein griechische Namen tragen. Wenn diese Figuren nicht allesamt erfunden worden sind, um den Angreifern eine entsprechende Anzahl an Verteidigern entgegenzustellen, muß man davon ausgehen, daß hier solche Namen, welche die Hellenen schwer aussprechen konnten, komplett durch vertrauter klingende ersetzt worden sind. Hinter einem „Epistrophos“ also könnte sich durchaus ein „Suppiluliuma“ verbergen. Muß es aber nicht.

Auf jeden Fall betritt man dünnes Eis, wenn man versucht, aufgrund von Ähnlichkeiten zwei Namen aus verschiedenen Sprachen miteinander in Beziehung zu bringen. Wie, das zeigt gerade ein deutsches Beispiel, haben wir es doch geschafft, aus „Arminius“ („Der Armenier“) einen „Hermann“ („Mann des Heeres“) zu machen.

d.) König Homer
Und daß man selbst unter Berücksichtigung sprachwissenschaftlicher Fallbeispiele und Methoden zu kuriosen Ergebnissen kommen kann, mag das folgende Exempel zeigen.

Der letzte bekannte König von Wilusa hieß „Walmu“ – Ein Name, der in keinem der Werke über den trojanischen Krieg auftaucht. Wenn man jedoch J. D. Hawkins (nebst anderen) folgt, wurde die hethitische Provinz „Walma“ im klassischen Griechenland „Holmoi“ genannt. Dieser Analogie folgend, hätte der Monarch bei den alten Achäern „Holmu“ gehießen. Akzeptiert man jetzt noch die Übersetzung von luwisch/ hethitisch „Alaksandu“ zu griechisch „Alexander“, so hätten die Nachbarn im Südwesten „Walmu“ als „Holmer“ gekannt.

Des Weiteren ist es in der Entwicklung von Sprachen ein häufig zu beobachtendes Phänomen, daß einer von zwei aufeinander folgenden, aber nicht zusammen wirkenden Konsonanten verschluckt wird, und letzten Endes ganz verschwindet. Als eines von vielen Beispielen möge hier die lateinische „Musca“ (Fliege) dienen, die auf dem Weg zur neuhochdeutschen „Mücke“ das „S“ vor dem „C“ verloren hat. Da ist es gar nicht mal so unwahrscheinlich, daß aus einem Namen, den man im 13. Jahrhundert noch „Holmer“ aussprach, im 8. Jahrhundert ein „Homer“ geworden sein könnte.

Diesem folgend, läßt es sich durchaus vorstellen, daß es sich bei „Ho(l)mer“ nicht nur um einen Eigennamen gehandelt hat, sondern auch um einen Ehrentitel für Dichter, welche die Erinnerung an einen Krieg um Walmus Stadt wahrten. Das würde auch erklären, warum sowohl alle Teile der Ilias, als auch die nachweislich später entstandene Odyssee einem einzigen Menschen – eben einem „Homer“ – zugeschrieben werden. Und daß sich gleich sieben Städte rühmen, Geburtsort des Dichters zu sein.

Ja, mit etwas Phantasie ließe sich sogar aus der Tatsache, daß Walmu eine Zeit lang ohne Thron gewesen ist, mutmaßen, er selbst wäre, sein Leid beklagend, durch die Lande gezogen, und habe so erst die Tradition ins Leben gerufen, das Schicksal Trojas zu besingen.

Aber wohl gemerkt: Dies alles ist Spekulation, und sie beruht zudem noch auf mehreren Annahmen. Die Wahrheit mag auch eine ganz andere sein. Schließlich taucht in keinem der Werke über den trojanischen Krieg ein Handlungsträger auf, dessen Name auch nur irgendwie an „Walmu“ oder „Homer“ erinnert.

e.) Der mannigfaltige Priamos
Doch so abenteuerlich diese Herleitung auch anmuten mag, ähnliche Wege werden beschritten, wenn es auf die Suche nach einem historischen Vorbild für Priamos geht.

Margarete Müller Marsall behauptet in ihrem Buch „Troja (Mythos und Wirklichkeit)“, es hätte einen phrygischen Herrscher dieses Namens gegeben. Leider fehlen hierzu nähere Angaben. Da die Phryger jedoch erst nach Ende der Bronzezeit vom Balkan aus im Norden Kleinasiens eingewandert sind, liegt der Verdacht nahe, daß dieser Priamos erst lange nach dem Ende von Troja VIIa geherrscht hat, und womöglich nach jenem anderen, aus der Dichtung Bekannten, benannt worden ist.

Latacz konstruiert aus luwischen Vokabeln einen „Priiamuua“ („hervorragenden Mut habend“), nennt jedoch kein einziges Beispiel dafür, daß es wirklich einmal eine Person dieses Namens gegeben haben mag.

Belegt ist der luwische Name „Pariamuwa“, doch gibt Hertel zu bedenken, daß er nur aus dem kilikischen Raum bekannt ist, nicht aber aus dem Westen Kleinasiens.

Bliebe noch das luwische Präfix „Pijama“, das in Namen wie „Pijamaradu“ und „Pijamakurunta“ vorkommt. Es mag eine Art Titel oder Ehrenbezeugung darstellen, vielleicht im Sinne von „Durchlaucht“ (was auf luwisch „Pihamma“ hieße); ähnliche Präfixe wie z. B. „Tarhuna“ stehen auch mit Götternamen in Verbindung. Freilich war keiner der beiden genannten Personen Herrscher von Wilusa. Pijamaradu wäre es (als Enkel eines vertriebenen Königs von Arzawa und Schwiegervater des ahhijawischen Statthalters in Millawanda) zwar gerne gewesen, aber sein Zug gegen Wilusa (und die zum Staat Mira gehörende Insel Lazba) scheiterte genauso, wie seine Versuche, andere Länder im Westen Kleinasiens zu erobern. Er hätte bestenfalls einen halbwegs passablen Kandidaten für Agamemnon abgegeben, aber da liegen nun gar keine Namensähnlichkeiten vor.

f.) Viele Zeiten, ein Zeitpunkt
Dem aufmerksamen Leser ist gewiß nicht entgangen, daß ich mich bislang darauf konzentriert habe, nach Helden aus der Sage in bronzezeitlichen Dokumenten zu suchen. Aber als Homer lebte, war diese Epoche schon seit fast einem halben Jahrtausend vorüber. Schon im vorangegangenen Kapitel habe ich darüber spekuliert, ob nicht manch ein Volk und manch eine Stadt aus einer anderen Ära stammt als der des Krieges. Gleiches gilt aber auch für die handelnden Personen. Beispielsweise gibt es in der Ilias eine Passage über einen kretischen Wagenlenker namens Meriones: „Maryannu“ als Bezeichnung für „Wagenlenker“ stammt aus dem Hurritischen, und war in spätmykenischer Zeit bereits eine antiquierte Vokabel. Auch paßte der ganze Abschnitt nur dann ins Versmaß, wenn man Homers ionische Vokabeln durch ihre frühmykenischen Vorformen ersetzt. Daher glaubt man, daß Teile eines verloren gegangenen Epos über die Eroberung Kretas in die Sage mit eingeflossen sind.

Umgekehrt handelt die „Aithiopis“ vom Eingreifen eines am Nil ansässigen Volkes. Hier stellt sich die Frage, was es in diesem sonst überwiegend auf den Ägäis Raum konzentrierten Konflikt verloren hatte. Der König der Äthiopen hieß „Memnon“ – An sich ein durch und durch griechischer Name. Troja aber wurde zur Zeit des Seevölkersturms zerstört, und der wurde erst in Ägypten aufgehalten, von den Pharaonen Ramses III. und Merénptah. Hier stellen die Theorien eine Verbindung zwischen „Memnon“ und „Merénptah“ her, und sehen in dem gesamten Sagenkomplex (inklusive der Odyssee) eine um Ilion komprimierte Zusammenfassung des gesamten Seevölkersturms.

Desweiteren hatte – soweit es aus Proklos‘ Zusammenfassung zu erschließen ist – nicht allein Odysseus Probleme damit, den rechten Heimweg zu finden. Menelaos zum Beispiel hat es bis nach Ägypten verschlagen. Angesichts des koordinierten Aufbruchs der vereinigten mykenischen Flotte nach Ilion verwundert es, welches Durcheinander bei der Rückfahrt geherrscht haben soll. Da auch Odysseus erst einmal auf Plünderfahrt (zu den Paionern) gegangen ist, hat man angenommen, mehrere seiner Kameraden hätten Ähnliches im Schilde geführt. Demzufolge würde auch die Nostoi den Seevölkersturm behandeln. Allerdings sollte man stets im Gedächtnis behalten, daß es in dem Werk nicht um Feldzüge geht, sondern lediglich um die Heimkehr der Helden von Troja.

Außerdem irritiert es, daß um die Zerstörung Trojas ein derartiger Mythos entstanden ist, die aber nahezu gleichzeitige Vernichtung der mykenischen Zentren totgeschwiegen wird. Doch bei der „Nostoi“ und der „Odyssee“ geht es immer nur um Treue oder Untreue der zurückgebliebenen Ehefrauen, um Stürme und Irrfahrten, aber um nichts, was die späthelladische Kultur als solche erschüttert. Keine Erdbeben werden erwähnt, auch nicht in Form eines göttlichen Zorns, und die prassenden Freier auf Ithaka sind nun wirklich keine plündernden und mordenden Eroberer. Allenfalls die „Dorische Wanderung“ käme hierfür in Frage, die gewiß nicht so gesittet verlaufen ist, wie man es später um des innergriechischen Friedens Willen gerne glauben machen wollte. Die jedoch wurde schon recht früh (u. a. von Herodot) für volle hundert Jahre nach dem Trojanischen Krieg angesetzt. Allerdings muß man einschränken, daß sich für den erwähnten Einfall dorischer Stämme keinerlei archäologische Belege finden lassen, wenn man eben die Vernichtung Ahhijawas nicht als solche werten möchte. Wirkliche Änderungen auf kulturellem Gebiet lassen sich erst circa zwei Jahrhunderte später feststellen.

Nun ist schon versucht worden, aus den erwähnten Heimfahrten solche Überfälle zu erschließen, aber in Anbetracht des recht eindeutig beschriebenen Schlachtengeschehens zuvor, wäre es nicht einleuchtend, wenn man plötzlich den Stil wechseln und in bloßen Andeutungen schreiben würde. Das wäre, als würde man einen detaillierten Bericht ohne erkennbaren Anlaß mit Fabeln kombinieren. Freilich muß man einwenden, daß einige der Erzählungen der Odyssee entstammen, die (anders als die Ilias) mit Sagengestalten und wundersamen Gegenden nur so gespickt ist. Doch auch hier hocken die Zyklopen und Sirenen, Skylla und Charybdis nur irgendwo in der Ferne, fallen aber nicht über die Heimat her.

Aber nicht nur ältere oder zeitgenössische Begebenheiten mögen in die Sagen mit eingeflossen sein. So hat Hertel vermutet, daß in die Mythen Begebenheiten aus der Zeit der Kolonisation von jeweils lokaler Bedeutung mit eingeflossen sind. Beispielsweise deutet er die Niederlage des Herrschers von Rhodos, Tlepolemos, gegen den Lykerkönig Sarpedon als Gleichnis für einen erfolglosen Versuch der Dorer, von Rhodos aus auf das lykische Festland überzugreifen. Ähnlich wertet er den Sieg des kretischen Monarchen, Idomeneus, über einen „Phaistos“, was auch der Name einer Stadt auf seiner Insel ist.

Aber solche Interpretationen gibt es einige, auch in Bezug auf andere Sagen der Vor Antike. Man denke da nur an Theseus, den Nationalhelden Athens, und seinen Sieg über den Minotaurus, den man als die Eroberung Kretas gegen 1430 v. Chr. gedeutet hat. Hier darf man jedoch nie vergessen, daß es sich um Legenden handelt! Schließlich würde auch nie jemand auf den Gedanken kommen, in jedem der Prinzen und Prinzessinnen aus Grimms Märchen reale Vorbilder erkennen zu wollen (auch wenn sie manche wirklich hatten, so etwa König Blaubart).

So faszinierend solche Hypothesen auch sein mögen, fußen sie doch lediglich auf Indizien, und nicht auf Beweisen. Aus diesem Grund lasse ich noch obskurere Annahmen draußen vor, wie etwa Eberhard Zanggers Behauptung, Troja wäre Atlantis gewesen, oder Raoul Schrotts Vermutung, bei Homer hätte es sich um einen assyrischen Schreiber gehandelt, der in Wirklichkeit Ereignisse in Kilikien geschildert hätte.

Selbst wenn sich in den Sagen Fakten finden, müssen sie nicht alle zur selben Zeit eingeflossen sein. Ein gutes Beispiel liefert hier das andere Homer zugeschriebene Epos, die Odyssee. Auf den zwei geschilderten Seefahrten (mal nach Südosten, mal nach Westen), getrennt durch das Fast Erreichen Ithakas und das Freisetzen der Winde, werden zwischen den mehr sagenhaften Etappen auch wiederholt reale Völker genannt. So hockten die Skythen dem Epos zufolge nicht etwa nördlich des Kaukasus, wo sich ihre Siedlungsgebiete in der Spätbronzezeit befunden haben, sondern bereits in Ost Anatolien, wo sie eben zu Homers Zeiten für Unruhe gesorgt haben. Auch die Rolle der Phönizier als selbst in Europa bekannte Seefahrer entspricht mehr derjenigen um 700, als der zur Zeit des postulierten trojanischen Krieges.

Dementsprechend ist es obsolet zu spekulieren, ob beispielsweise mit „Scylla“ Sizilien gemeint sein könnte, oder aber eine frühere Heimat der während der Seevölkerzüge wandernden Sikiler (S[i]ciler?), zum Beispiel beim Vesuv, mit den Grotten Capris („Charybdis“?) in Sichtweite. Wo so viele Epochen miteinander vermengt worden sind, erübrigt sich jedweder chronologische Ansatz. Auch darf man sich nicht von Namensähnlichkeiten zu Trugschlüssen verleiten lassen. „Zyklop“ beispielsweise kommt von „Cyclops“, was „kreisrundes Auge“ bedeutet. Mit den Kykladen haben Polyphem und die seinen rein gar nichts zu schaffen.

Nun mag man freilich einwenden, daß in der Ilias gleichfalls Atavismen auftreten, z. B. die Erwähnung von Phrygern in Kleinasien. Hier jedoch muß der Einwand gemacht werden, daß die Auflistung nach Regionen erfolgt, und es da zu vermuten ist, daß Homer auf deren zeitgenössischen Namen zurückgegriffen, und diese auf die jeweiligen Bewohner übertragen hat. Die „Phryger“ wären demnach also Bewohner einer Region, die ihren Namen „Phrygien“ erst von den später einwandernden, „echten Phrygern“ erhielt.

g.) Über Pferde und Widder
Aber bei all den Vergleichen, die wir bislang angestellt haben, haben wir uns doch mehr oder weniger auf Sprachwissenschaft und Geschichte beschränkt. Viel zu kurz gekommen ist die Archäologie mit ihren kulturellen Erkenntnissen. Doch was die spektakulärste technische Errungenschaft des ganzen Sagenkreises anbelangt, da haben uns die Funde ohnehin nichts Relevantes hinterlassen: das Pferd! Das berühmte Pferd! In der Ilias kommt es gar nicht vor, und in der Odyssee taucht es gerade mal im Lied eines Dichters auf. Erst die nach Homers Tod entstandene „Iliupersis“ geht detaillierter auf die Eroberung der Stadt ein. Wobei es hier die Frage ist, ob wir es mehr mit einer „List“ des Odysseus zu tun haben, oder der Dummheit der Trojaner, die sogar noch ihr eigenes Stadttor zerstören, um das viel zu große Holztier in die Stadt zu bekommen.

Ein künstliches Lebewesen, in dem verborgen Feinde in die Stadt gelangen, und dabei auch noch das Portal ramponiert wird? Das klingt nur zu sehr nach einem Rammbock. In der Tat waren Belagerungsmaschinen in der Bronzezeit schon bekannt. So wurde der hethitische Großkönig Hattusili I. (1565 – 1540) von seinen Truppen zur Weißglut getrieben, als sie es fertig brachten, beim Angriff auf Warsuwa nicht die Pforte, sondern ihren Widder zu zerbrechen. Allerdings lag Warsuwa (= Ursua) westlich des Euphrats (und hatte mit Warschau nichts zu tun), in einer Region, die schon seit fast einem Jahrtausend zur Interessensphäre konkurrierender Großreiche gehörte. Hier war die Kriegstechnik gewiß weiter entwickelt, als in den Randbereichen der damaligen Zivilisation (und dazu gehörten die Dardanellen und Europa nun mal). Ja, die Assyrer belegten ihr Sturmgerät sogar mit Tiernamen.

Die Ilias auf jeden Fall weiß nichts von derlei Apparaturen; hier versucht man die Stadt noch mittels Aushungern zu bezwingen. Wenn Odysseus hier eine neue Technik einführt, die er auf Athene zurückführt (die Strategin unter den Göttern), für welche die Achäer noch nicht einmal einen Namen haben, verwundert es nicht, wenn auf einmal von einem „hölzernen Roߓ die Rede wäre. Schließlich leiten sich auch unsere Begriffe „Rammbock“ und „Widder“ von Tieren her. Allerdings muß man einwenden, daß Pferde nicht unbedingt dafür bekannt sind, ihre Köpfe irgendwo gegen zu schlagen; hier hat dann wohl doch mehr die Bedeutung der Tiere für Wirtschaft und Kult in Ilion eine Rolle gespielt.

Viele, viele Theorien haben wir inzwischen erörtert. Vielleicht ist es nun an der Zeit, eine kleine Zwischenbilanz zu ziehen, um wieder einigermaßen Klarheit zu erlangen.

 

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