Ein Kriminalfall aus der Hessischen Provinz
Ein Kriminalfall aus der
Hessischen Provinz
Am 10ten November 1831 machte der Einwohner Franz Vogt von Epterode bei dem Justizamte in Lichtenau die Anzeige, dass "am Tage zuvor sein 17 Jahre alter Sohn, welcher mit Schuhnägeln einen Handel treibe und durch den Wald bei Romrode gekommen, räuberisch angefallen und durch einen Schnitt am Halse verletzt" sei1.
Es gibt dabei um einen jungen Mann aus Fürstenhagen, einem Ort zwischen Kassel und Eschwege, der angeklagt wurde, einen herumreisenden Händler namens Johannes Vogt verletzt zu haben. Der Vorfall ereignete sich im November 1831.
Mit Schuhnägeln handelnd sei er am 9ten Nov um 10 Uhr Morgens nach Fürstenhagen gekommen und nach Romrode [Rommerode] zu gegangen. Kurz hinter dem ersteren Dorfe [Ergänzung: Es ist nicht ganz klar, welche Wegstrecke der Johannes Vogt gegangen ist] habe ein ihm unbekannter Bursch sich zu ihm gesellt, ihn gefragt, wohin die Reise gehe und auf die Antwort, daß er nach Epterode wolle, sich zum Begleiter angeboten.
Fliegende Händler waren zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches. Öffentliche Verkehrsmittel waren für viele Menschen nicht erreichbar oder unbezahlbar, Geschäfte waren gerade in den kleinen Ortschaften selten. So waren die Menschen auf den Dörfern unter dem Jahr auf reisende Händler angewiesen, wenn sie nicht bis zur nächsten Reise in die nächstgrößere Stadt und/oder Jahrmarkt oder Kirmes warten wollten. Wer auf dem Lande lebte, war sein eigener Schneider, Schuhmacher, Barbier ... Schuhmacher zogen häufig ebenso herum und boten ihre Dienste an wie Kesselflicker oder Scherenschleifer. Und wenn man nicht das Geld für einen Schuhmacher hatte, oder dieses nicht ausgeben wollte, der kaufte Schuhnägel bei herumreisenden Händlern - wie eben jenem Vogt.
Schuhnägel (Schuhzwecken), Zwecken von verschiedener Größe u. Gestalt zum Beschlagen der Absätze u. Sohlen der Schuhe u. Stiefeln; sie haben runde platte, runde gewölbte, facettenartige od. halbe, lange, gebogene Köpfe; die Sohlennägel sind 1/4 1/2 Zoll, die Absatznägel 3/4 7/8 Zoll lang. Vgl. Schuhpinnen.2
Bei der Befragung durch die Behörden berichtete Johannes Vogt, dass sie "unter gleichgültigen Gesprächen" durch den Wald gegangen seien. Vermutlich hatten sie zunächst den Weg am Waldrand entlang genommen und waren dann - wahrscheinlich an jenem Ortsteil von Hessisch-Lichtenau, der heute Mühlenberg genannt wird, in den Wald hinein abgebogen. Dort gibt es einen Waldweg, der direkt nach Friedrichsbrück führt.
Der von diesem Arzt ausgestellte Befundschein berichtete, es "hat sich am obersten Theile des Halses in der Gegend zwischen dem Kopfe der Luftröhre und dem Zungenbeine eine Verletzung vorgefunden, welche dicht unter dem Unterkiefer von links und hinten schräg nach rechts und vorn bis auf die rechte Seite des Halses verlief und sich dann nach vorn und aufwärts einen stumpfen Winkel bildend drehte, dessen erstgenannter längerer Schenkel 2 1/4 bis 2 1/2 Zoll lang, der andere nach vorn und aufwärts verlaufende aber 3/4 Zoll lang war. Die Wunde schien mit einem scharfen Messer geschnitten zu sein, war 1/2 Zoll tief, so daß die äußere Haut, das Zellgewebe und der breite Halsmuskel - platus mamiodies - auf jeder Seite durchschnitten war und man die das Zungenbein mit dem Kehlkopfe verbindenden Muskeln nicht undeutlich liegen sah, ohne daß dieselben verletzt waren."
Nun hieß es, nachdem klar war, dass die Verletzung des jungen Mannes zwar schwer aber nicht tödlich sein würde, den Täter zu stellen, um ihn von dem Opfer identifizieren zu lassen.
"Der Obergendarm R., welcher zunächst nach der von dem Verwundeten erhaltenen Beschreibung einen gewissen Jost Henrich U aus Fürstenhagen der That für verdächtig hielt und denselben dem Verwundeten zur Anerkennung vorstellte, führte dann, nachdem dieser in dem U den Thäter nicht erkannte, nach vorgängiger Durchsicht der Cantonslisten [Ergänzung: Die Cantonsliste stellte in Hessen ein Verzeichnis der Militärpflichtigen der jeweiligen Gegend dar und diente in diesem Fall als Möglichkeit festzustellen, welcher junge Mann aus der Region in Frage kommen könnte] den Jost Henrich W aus Fürstenhagen nach Epterode ..."
In Epterode, heute ein Ortsteil von Großalmerode, hatte man Johannes Vogt im Haus eines Bekannten von Nicolaus und Magdalene untergebracht.
... wo der im Bette liegende Verwundete kaum denselben erblickte, als er wüthend aufsprang und den W am Halse fassend ausrief `das ist der Spitzbube`worauf dieser sich entfärbte und verlegen antwortete `was dann´ [Anmerkung: übrigens heute immer noch hier in der Region ein ausgesprochen beliebter Begriff für alle Arten von Verwunderung, Ärger etc.], dann aber mit niedergeschlagenen Augen verstummte. W wurde hierauf an das Justizamt Lichtenau abgeliefert, wo er alsbald vernommen nach einigen ausweichenden Antworten bald in lautes Weinen ausbrach und folgendes zu Protokoll erklärte (...)
Tatsächlich war dieser junge Mann der Schuldige. Er hatte bemerkt, dass Johannes Vogt "einen guten blauen Kittel und Hosen von schwarzem Manchester trug" und fasste den Plan, J. Vogt zu ermorden und ihm die Kleidung zu stehlen.
Ich that nur einen Schnitt oder vielmehr nur den einen Zug, als ich, von Reue ergriffen und gleichsam von einer unsichtbaren Macht zurückgeworfen, den Menschen, der sich weiter nicht wehrte, wieder fahren ließ und hierauf eiligst die Flucht ergriff. Noth ist der Grund meiner Handlung gewesen, ich habe weiter keine Kleidung als die ich auf dem Leibe trage, deßhalb gedachte ich mir einen guten Kittel und eine Hose, welches beides ich am Vogt bemerkt hatte, zu rauben. An Geld, welches derselbe etwa bei sich haben mochte, habe ich nicht gedacht ...
Sollte diese Begründung Bestand haben, wäre sie als mindernder Grund für die Höhe der Strafe gewesen. Man versuchte entsprechend, mehr über die Familienverhältnisse und persönliche Situation des Angeklagten zu erfahren.
1813 geboren, war W der Sohn eines Zimmermanns aus der Region und hatte mit knapp einem Jahr seine Mutter verloren. Er habe "Lesen und Schreiben gelernt den nöthigen Religionsunterricht gehabt und ist zur gehörigen Zeit confirmirt worden". Etwa 10 Jahre nach dem Tod der Mutter hatte der Vater erneut geheiratet. Der Junge war bei seinem Vater als Zimmerlehrling in Dienst gewesen und hatte nebenbei als Leinweber gearbeitet.
Diese wenigen Stichworte wecken bei einem heutigen Leser gleich Mitgefühl und das Gefühl, es handele sich um einen armen Jungen. Jedoch, so der Bericht weiter, habe die 2. Ehefrau des Vaters einen Ruf als "eine sehr brave Frau" gehabt und es machte den Anschein, als wäre er in der Familie gut behandelt worden.
Im Gegenteil gab es eine Reihe von Aussagen, die eher den Jungen als (so der Vater) "sein einziges Kind immer ein böser Junge gewesen und ihm von frühe an durch Unfolgsamkeit und heimliche Nascherei viel zu schaffen gemacht habe".
Auch Schullehrer, Nachbarn, Pfarrer und der Ortsvorstand wurden gehört, und so rundete sich in den Augen des Gerichts die Vorstellung, dass der Junge "verwildert" gewesen sei, da der Vater oft wochenlang nicht zuhause gewesen sei, um außerhalb seiner Arbeit nachzugehen. In den Jahren vor der zweiten Ehe war der Junge damit offenbar auf sich allein angewiesen gewesen. Er habe zwar schwächlich gewirkt, sei jedoch stark gewesen - und nicht mittellos, denn er habe von seiner Mutter eine nicht unerhebliche Summe geerbt. Dieses war zum Zeitpunkt der Verhandlung jedoch bereits aufgebraucht.
Bis auf die schwierige Jugend des W. konnte man keine entlastenden Fakten finden, denn auch die erwähnte Not stellte sich als unwahr heraus. Der Angeklagte verfügte durchaus über ausreichend andere Kleidung.
Entsprechend hart war das Urteil. Das Obergericht erkannte auf "
"Die "Eisenstrafe zweiter Classe" war eine nicht zu unterschätzende Strafe. "Eisenstrafe" bezeichnete zunächst die Form - nämlich in Form von 2 Beineisen, die Klassifizierung "zweiter Klasse" das Gewicht des Eisens, das - je nach Grad der Straftat - unterschiedlich hoch war. Betrug das Gewicht bei der ersten Klasse 6 Pfund, waren es bei der hier verhängten Strafe 9 Pfund. Dieses Gewicht war bis zu einen Monat lang ununterbrochen zu tragen, der Gefangene musste dabei der Pflichtarbeit nachgehen - die bei Sträflingen in der Regel harte körperliche Arbeit bedeutete3.
Als W. dieses Urteil hörte, musste er mehr als überrascht gewesen sein. Er erklärte, dass er nicht mit einer so hohen Strafe gerechnet habe - und legte Berufung ein.
Einer der Gründe für die Härte der Strafe war unter anderem auch die Tatsache gewesen, dass W. nicht zum ersten Mal mit krimineller Energie aufgefallen war.
"Bemerkt muß hierbei noch werden, daß derselbe auch der Begehung von drei Diebstählen, welche im Sommer und Herbst des Jahres 183 geschehen sind, beschuldigt wird, und die Begehung eines Diebstahls von 12 Sgr 4 Hllr eingestanden, die übrigen Anschuldigungen aber geleugnet hat, deren auch nicht überführt, jedoch verdächtig geblieben ist."
In der Berufungsverhandlung wurde auch eine Aussage des Angeklagten zur Sprache gebracht und bewertet, die der Angeklagte bei den ersten Vernehmungen nicht erwähnt, sondern erst in der Hauptverhandlung genannt hatte - und mittels derer er einen ganz neuen Aspekt einbringen wollte:
Auf dem Wege nach dem Teichhof, sagte der Angeschuldigte, war es mir plötzlich, als ob ich einen Flor vor den Augen hätte, ich wurde so matt, als ob ich ohnmächtig werden wollte. Wenn ich nach Fürstenhagen zurückblickte, wurde mir wie neugeboren, wenn ich nach dem Teichhose hinsah, war es mir wieder so ohnmächtig zu Muthe. Jetzt sah ich, wie in einem Wank (Schimmer), einen Menschen in einem blauleinenen Kittel mit abgeschossener Hose und blauer Sammtkappe, welcher ein Reff auf dem Rücken hatte, und den Weg von Fürstenhagen nach Romrode ging. Mich überfiel ein Zittern, und es kam mir vor als ob eine thierische Gestalt, halb schwarz, halb weiß mit aufgehobenem Beine nach der Gegend hinwies, wo die Mannsperson hinausging. Der Flor vor den Augen war weg, und es war mir wie eingetrichtert, daß ich hinter dem Menschen hergehen und ihm einen Zwick mit dem Messer geben müsse. Ich ging hinter dem Menschen her, traf ihn auf dem bezeichneten Wege, sprach ihm zu und ging mit ihm seines Weges, wobei es mir immer war als ob das Thier, welches ich früher gesehen, neben mir ging. Nach einiger Zeit war es mir, als ob mich das Thier anstieß, ich sah den Burschen darauf an und es war mir als müßte ich ihm Hose und Kittel ausziehen. Ich dachte zwar `ach du lieber Gott das darfst du nicht thun, der hat dir ja nichts gethan´, das Thier stieß mich aber dreimal wieder an, da konnte ich es nicht über das Herz bringen und ich gab dem Menschen einen Zwick mit dem Messer in den Hals, wobei mir war, als schlage mich Jemand mit der Klopfkeule vor den Kopf; Ich ließ den Menschen gehen und lief durch den Wald nach dem Teichhofe zu. Es war mir vorher immer als ob ich es thun müßte, wenn ich nun den Vogt ansah, konnte ich es wieder nicht unternehmen, bis mir es vorkam, als ob die Gestalt mich dreimal anstieß, wo ich dann nicht anders konnte und immer dabei denken mußte, es geschieht um den Kittel und die Hose.
1 Otto Ludwig Heuser - Bemerkenswerthe Entscheidungen des Criminal-Senates des Ober-Appellations-Gerichtes zu Cassel, Band 1, Verlag Krieger, 1845
2 Pierer's Universal-Lexikon, Band 15. Altenburg 1862, S. 450.
3 Karl-May-Gesellschaft - Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1976, Hansa-Verlag, 1976
kTM
Kommentare
Hallo Herr Nobel,
danke für Ihre Nachricht! Natürlich kenne ich Sie und Ihre Forschung, vielleicht erinnern Sie sich daran, dass wir Kontakt hatten in Zusammenhang mit unseren gemeinsamen Glasmacherfamiien.
Dass sogar dieser Vogt mit Ihnen verwandt ist, hätte ich nicht gedacht :-). Viele Grüße, Bettina vAllwörden