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Blut, Beute und Bittgebet - Deutsche Raubritter im 13. und 14. Jahrhundert (Leseprobe, Teil 2)

Blut, Beute und BittgebetBlut, Beute und Bittgebet
Deutsche Raubritter im 13. und 14. Jahrhundert
(Leseprobe der zweite Teil)

Beutegierig wie Wölfe lauern die Landplacker auf ihre Opfer. Sie überfallen Wagenzüge, sie rauben Dörfer aus, sie entführen Personen von Stand. Ihre Feinde indes wollen sie auf dem Schafott sehen.       

Vom Niedergang einer Harzgrafschaft


Blut, Beute und BittgebetNeuere Historiker lehnen die Anwendung des Begriffs Raubritter ab. Allein als Umschreibung in Darstellungen ohne Quellenanalyse wird er akzeptiert. Der Grund für diese Ablehnung ist eine im Hinblick auf die ältere Forschung differenzierten Sichtweise der ritterlichen Gewalt.

  In der Tat existierte der Begriff Raubritter im Mittelalter nicht, sondern kam er erst im späten 18. Jahrhundert auf. Was von der neueren Forschung nicht in Abrede gestellt wird, ist das Phänomen an sich: An der Flut ritterlicher Gewalttätigkeiten, Rechtsbrüche und Willkürakte, welche die Zeitläufte unsicher machten, gibt es nichts zu missdeuten. 

  Für ähnlich lautende Bezeichnungen fällt die Beurteilung der jüngeren Forschung nicht anders aus. Die Etikettierung Raubgraf beispielsweise entstammt dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers Julius Wolff, der 1884 erschien.

Der Raubgraf, ein noch heute gelesenes Heimatbuch, handelt von den Auseinandersetzungen zwischen den Grafen von Regenstein-Heimburg, der Stadt Quedlinburg, dem Stift auf dem Burgberg und Bischof Albrecht II. von Halberstadt im 14. Jahrhundert. Mit den Tatsachen nimmt Wolff es hierbei nicht so genau. Andererseits hat sich durch den Roman der Begriff Raubgraf unvergänglich ins Gedächtnis der Öffentlichkeit gegraben.

  Den Namen Raubgraf trug Albrecht II. von Regenstein, der romantisch verklärte Protagonist des Romans, gänzlich zu Unrecht. Dem wirklichen Grafen ging es nicht um räuberische Aktionen, sondern um die Vorherrschaft im Harzgau.

  Um sein Vorhaben zu erreichen, musste er Fehden austragen – Fehden mit benachbarten Dynastengeschlechtern, mit kirchlichen Würdenträgern, gelegentlich sogar mit dem Landesherrn. Jede zielte darauf ab, begründete oder vermeintliche Rechtsansprüche durchzusetzen oder auf Kosten des jeweils anderen Territorialherren das eigene Gebiet zu erweitern. Dass es im Rahmen der mit Waffengewalt erzwungenen Ansprüche zum Ausplündern der gegnerischen Ländereien und Untertanen kam, gehörte dazu.

  Zu Beginn des 14. Jahrhunderts waren die Regenstein-Heimburger Grafen das mächtigste Dynastengeschlecht im Harzgau. In ihrem Dienst standen mehr als 30 Vasallen. Sie besaßen zahllose Dörfer, 15 Dingstühle und neben dem Regenstein und der Heimburg elf weitere Burgen.

  Es lag auf der Hand, dass andere Grundbesitzer ihnen diese Machtfülle neideten. Doch deshalb kamen sich die weltlichen Herren von Stand zunächst nicht ins Gehege. Dass ausgerechnet ein Kirchensprengel ihren Niedergang anbahnen und zu ihrem erbittertsten Gegner um die Vorherrschaft im Harzraum werden würde, hätten sich Regenstein-Heimburger Grafen hingegen nicht im Traum vorstellen können.

  Neben den weltlichen Grundherren hatte das Bistum Halberstadt von jeher im Harzraum Macht und Einfluss besessen. Im 14. Jahrhundert begann das Hochstift nun jedoch damit, auf eine Art und Weise Besitztümer zusammenzuraffen, die weder Scham noch Hemmnisse kannte. Wie eine gierige Riesenspinne verschlang es auf Kosten der umliegenden Grafschaften eine Liegenschaft nach der anderen.

  Schon Ulrich III., der Vater des Raubgrafen, hatte die territoriale Ausdehnung des Sprengels misstrauisch beobachtet. Eine Fehde zwischen den heimburgischen Grafen und dem Bistum Halberstadt schien unvermeidlich. Ehe der Konflikt jedoch ausbrach, starb er. Ihm folgte Endes des Jahres 1322 sein Sohn Albrecht.

  Entscheidend änderten sich die Verhältnisse für Graf Albrecht II. von Regenstein und seine fünf Brüder, als am 16. Mai 1325 der Herzogssohn Albrecht aus dem Adelsgeschlecht Braunschweig-Lüneburg trotz verlorener Wahl im Domkapitel den Halberstädter Bischofsstuhl bestieg.

  In dem Welfenspross erwuchs den Harzgrafen ein mit allen Hunden gehetzter Gegner, dem der Sinn nur nach einem stand, nämlich die eigene Machtstellung zu stärken. Um jeden Preis zu stärken.

  Und Bischof Albrecht II. von Halberstadt schmiedete nicht nur Pläne, sondern verwirklichte sie auch. Kurz vor Ostern 1326 eroberte eine bischöfliche Söldnerschar die Guntekenburg, welche die Regensteiner zwischen dem Stiftsberg und dem Kloster St. Wiperti angelegt hatten, um die Quedlinburger Gerechtsame zu sichern.

  In den nachfolgenden Schiedsverhandlungen setzte der Bischof durch, dass die Zwingburg geschleift werden sollte. Zudem mussten die Regensteiner das Vogteirecht des Bistums über die Stadt Quedlinburg anerkennen.

  Fürwahr, die erste Auseinandersetzung mit dem Halberstädter Kleriker war für die heimburgischen Grafen höchst unrühmlich verlaufen. Doch wenn sie erst das Notwendige an Reisigen, Pferden und Belagerungsgerät aufgetrieben hatten, würden sie das Verlorene zurückgewinnen. So viel stand fest.

  In der Tat brauchte Albrecht von Regenstein der nächsten Fehde nicht nachzulaufen. Sie kam ganz von selbst, als 1332 das Falkensteiner Erbe nicht an das Heimburger Grafengeschlecht, sondern an das Bistum Halberstadt fiel. Doch in der im Frühjahr 1336 beginnenden Auseinandersetzung verlief wieder nichts nach des Raubgrafen Erwartung.

  Der Regensteiner erlitt Rückschlag auf Rückschlag. Die Belagerung Quedlinburgs erwies sich als langwierig, die Bürger verteidigten den Mauerring zäh. Nichts und niemanden ließen sie hinein in die Stadt.

  Dafür aber kamen sie heraus – und nahmen bei einem solchen Ausfall den Grafen selbst gefangen. Man nahm ihm Schwert, Dolch, Streitaxt, Sporen sowie die Feldtasche ab. Anschließend wurde er nach Quedlinburg gebracht und auf dem Rathausboden in einen Holzkasten eingesperrt. Dort musste er 20 Monate lang dahinvegetieren, gekrümmt wie ein getretener Wurm.

Blut, Beute und BittgebetIn Ketten: Im Verlauf der Belagerung von Quedlinburg geriet Albrecht von Regenstein am 7. Juli 1336 vor Gersdorf in Gefangenschaft. Das Wandgemälde zeigt den Grafen in Ketten vor dem Rathaus der Harzstadt.

Viele Historiker bezweifeln die Verwahrung des Regensteiners im hölzernen Kasten, weil die Urkunden davon nichts erwähnen. Andere schenken dem Vorgang Glauben und führen als Beweis die 1408 in Aschersleben erfolgte Arretierung des Plackers Friedrich von Heldrungen an, der 21 Monate in einem Holzkäfig hocken musste.

 Ähnlich in Zweifel gezogen wird die Echtheit der noch heute gezeigten Trophäen, die den Quedlinburgern bei der Gefangennahme des Raubgrafen in die Hände gefallen und von ihnen in die städtische Rüstkammer gebracht worden waren. Man hält sie für Imitationen. Das Schwert des Raubgrafen nahm der schwedische General Königsmark, der gegen Ende des 30-jährigen Krieges in Quedlinburg logierte, 1645 als Beutestück mit in den Norden ...

Auch nach der Freilassung des Raubgrafen blieben in den heimburgischen Burgen die Unglücksmeldungen nicht aus. 1343 gelang es Konrad von Wernigerode, den Grafen Heinrich aus der älteren Linie Regenstein gefangen zu nehmen. Für seine Auslösung musste das Dynastengeschlecht weitere Besitzungen von ihrem Stammterritorium urkundlich abtreten.

  Der Niedergang der Regensteiner Harzgrafen nahm seinen Fortgang. Während der Halberstädter Sprengel und auch das Gebiet der Wernigeröder Grafen sich ständig ausdehnten, schmolz der regensteinsche Grundbesitz zusammen wie Schnee in der Märzsonne. Wenn kein Wunder geschah, war der Sturz in die Bedeutungslosigkeit nicht mehr aufzuhalten.

  Das Wunder geschah nicht. Im Gegenteil: Kaum hatte die Regenstein-Heimburger Grafenfamilie sich von der neuerliche Beschneidung ihrer Macht erholt, da erhielt sie die nächste Nachricht, die sie in Alarm versetzte.

  Bernhard, der Bruder Albrechts von Regenstein, saß im Ritterkeller des Mühlhäuser Rathauses in Haft. Bei dem Versuch, im thüringischen Land eine Viehherde zu rauben, waren er und seine Begleiter überwältigt und gefangen genommen worden. 

Blut, Beute und BittgebetDer „Raubgrafenkasten“: Nach seiner Gefangennahme soll Albrecht von Regenstein 20 Monate lang auf dem Quedlinburger Rathausboden in einem massiven Holzkasten eingesperrt worden sein. Der „Raubgrafenkasten“ kann noch heute in der Harzstadt besichtigt werden.

Die Bürger von Mühlhausen wollten ihn und die anderen Heckenreiter jedoch nur freilassen, wenn dafür ihre Stadtmauer um eine halbe Rute (= 2,30 Meter) erhöht werden würde. Auf Kosten der Gefangenen, versteht sich.

  Den Angehörigen des Heimburger Grafengeschlechts schwollen die Köpfe an. Teufel, was nun? Wie sollten sie, die ohnehin in Geldnöten steckten, diese Auslöseforderung erfüllen?  
  Und jetzt, da sich die Anverwandten des Gefangenen bemühten, den verlangten Batzen Geld zu beschaffen, um Bernhard von Heimburg aus der Haft zu lösen, traf die nächste Hiobsbotschaft ein: Graf Albrecht von Regenstein war tot. Hinterrücks ermordet von bischöflichen Schergen.
 
Rache und Reinfall
Silberhell fiel der Schein des Mondes auf die schneebedeckte Landschaft, die Sterne glitzerten in der frostklaren Luft. Eisig wehte der Ostwind über die weißen Felder und Hügel. Das Mondlicht beschien auch die Berittenen, die sich auf Richtwegen abseits der Landstraßen von Nordwesten her der Bischofsstadt Halberstadt näherten. 

  Über die behelmten Köpfe hatten sie Kapuzen gezogen. Die meisten Reiter hüllten fußlange Tuchmäntel ein, manche von ihnen besaßen auch einen Pelzumhang. 

Sie ritten hintereinander, ein Pferd stapfte in der Spur des anderen über den frostharten Schnee. Gelegentlich stoben unter den Hufen weiße Schleier hervor, die sich unter der Nase und an den Wimpern der frierenden Waffenknechte festsetzten. 

  Andererseits durften sie froh sein, dass sich der vorgestrige Flockenwirbel gelegt hatte. Es schneite nicht mehr, es war nur noch kalt und windig. Durch knietiefen Schnee und hochgefegte Verwehungen wäre der Ritt noch beschwerlicher geworden.       

  Mit Bernhard von Heimburg zogen drei Dutzend Bewaffnete so dahin. Für sie kam alles darauf an, den Mauerring der Bischofsstadt unbemerkt zu erreichen. Deshalb hatten sie die Stadt im weiten Bogen umritten.

  Der Graf wusste, dass es über die Weihnachtstage an den Stadttoren im nördlichen Mauerabschnitt nur einen Wächter gab. Bescheid wusste er deshalb, weil er ein paar Ortsansässige dafür bezahlte, dass sie Spitzeldienste leisteten. Wären sie aus der entgegengesetzten Richtung herangeritten, hätten sie vor dem Eindringen in die Bischofsstadt drei oder vier Torwachen überwältigen müssen. Wenn der Stadt Gefahr drohte, so schienen die Halberstädter Ratsherren zu glauben, dann würde sie aus dem südlichen Vorland heraufziehen.

  Das Eis auf dem Bach am Richtweg, der bis zum Grund gefroren war, brummte und krachte. Starr und frostig streckte das Ufergebüsch seine Zweige gegen den Wegrand.

  Eine halbe Wegstunde später bogen die Berittenen auf die Fahrstraße ein. Jetzt konnten die Waffenknechte in Doppelreihe reiten. Der zweite Sohn des ermordeten Grafen von Regenstein, der ebenfalls Bernhard hieß, ließ sein Pferd an der Seite des Oheims gehen.

  Hinter den beiden Bernhards ritten Ulrich, ein weiterer Neffe des Heimburger Grafen, und der Vogt vom Regenstein. Albrecht III., der älteste Sohn des toten Harzgrafen und dessen Nachfolger, hatte für den Fall – für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass ihr Vorhaben misslingen sollte, in der Felsenburg zurückbleiben müssen.        

  Bernhard von Heimburg bedachte seinen Neffen mit einem Seitenblick. Hoffentlich, überlegte er, lässt er sich nachher nicht zu einer Unbesonnenheit hinreißen. Bernhard II. von Regenstein neigte zu Zornesausbrüchen.

  Er seufzte, als wolle er den trüben Gedanken verscheuchen. Immerhin hatte er es ja den Anstrengungen seiner Neffen zu verdanken, dass er nicht mehr als Gefangener im Ritterkeller des Mühlhäuser Rathauses hockte, sondern am Weihnachtsabend 1349 als Rachegeist auf die Residenz des welfischen Kuttenkerls zuritt. Für seine Auslösung hatte das Regenstein-Heimburger Grafengeschlecht ein beträchtlicheres Vermögen opfern müssen als im Jahrzehnt zuvor für den älteren Bruder. Dafür musste jetzt er, Bernhard von Heimburg, im Gegenzug die Rachsucht seiner Verwandten stillen.

  Natürlich hassten seine Neffen den Halberstädter Blutpfaffen. Wie jeder im Harzgau hielten sie ihn für den Anstifter des Meuchelmords an ihren Vater. Dass er nach der Untat die Mordgesellen in seinem Dienst behalten hatte, galt ihnen als Schuldbeweis.

Bernhard von Heimburg spähte vom Sattel seines Pferdes aus über die schneebedeckte Landschaft, ehe er in seinen Überlegungen fortfuhr. Sie wollten den Tod ihres Vaters rächen, die Neffen.

Die brennende Vorstellung, dass die Schergen des Blutpfaffen Albrecht von Regenstein an einer Lanze aufgehängt hatten wie einen ertappten Hühnerdieb, konnte nur Blut abkühlen. Jedermann erwartete von Graf Bernhard nun eine Initiative gegen den Halberstädter Bischof. 

  Gewiss, auch in seinem Inneren brannte der Hass auf den Blutpfaffen wie eine alles verzehrende Flamme. Allerdings erachtete es Bernhard von Heimburg nicht als ungehörig, die Pflichterfüllung mit dem Nützlichen zu verbinden und beiläufig die leere Geldtruhe seines Geschlechts zu füllen.

  Folglich hatte er seinen Neffen den Vorschlag eines Handstreichs gegen die Bischofsstadt unterbreitet. Nicht irgendwann, sondern in der Christnacht, wenn die Kirchenglocken die Bürger zur Andacht riefen.

  Zweifellos grenzte dieser Plan an Tollkühnheit, vor allem da sie zwei Jahre zuvor mit Graf Albrecht an der Spitze schon Ähnliches versucht hatten. Bedauerlicherweise war ihr Vorhaben seinerzeit nicht sonderlich erfolgreich verlaufen. Nahezu ohne Beute hatten sie von dannen ziehen müssen. 

Seit dem Überfall vor zwei Jahren hatte sich die Heimburger Grafensippe hinsichtlich eines solchen Unternehmens nicht wieder gerührt. Wenn es eine Hoffnung gab, den Span zu wiederholen, so lag sie darin, dass in der Stadt die übliche Sorglosigkeit und der allgemeine Schlendrian eingekehrt waren. 

Zumindest schien es nach den Spitzelberichten so zu sein. Aber Graf Bernhard war sich darüber im Klaren, dass diese Hoffnung an einem seidenen Faden hing. Die Gefahr, dass die Wachen in der Bischofsstadt über die Weihnachtstage zu guter Letzt nicht verringert, sondern verstärkt werden würden, bestand immer. 

  Wie dem auch sei: Seine Neffen waren von seiner Anregung hellauf begeistert gewesen. Jetzt konnten sie nicht nur mit der Schwertklinge an dem Pfaffengezücht ihren Hass kühlen, sondern es überdies zur Ader lassen.

So war außer dem Racheverlangen jetzt auch der Halberstädter Domschatz ihr Ziel. Dieser Span würde den Blutbischof bis ins Mark treffen.  

  Der Domschatz übertraf jeden Traum von unermesslichem Reichtum, das war weit und breit bekannt. Vollgestopft mit Kostbarkeiten war er, der Kirchenbau St. Stephanus und St. Sixtus in Halberstadt. Wo sonst hätten sie sicherer sein sollen als in einer heiligen Stätte?  

  Viele Kostbarkeiten stammten aus Byzanz und dem Morgenland, etliche hatten zum Brautschatz der Kaiserin Theophano gehört. Die byzantinische Gemahlin Otto II. hatte mehrfach in Halberstadt geweilt. Andere Stücke waren Beutegut aus den Kreuzzügen, an denen verschiedene Halberstädter Bischöfe teilgenommen hatten. Nun wollten sich die Regenstein-Heimburger Grafen den Domschatz einverleiben ...    

  Bernhard von Heimburg unterbrach seine Gedankengänge. Der Weg führte jetzt einen baumbestandenen Hügel hinauf. Auf der Anhöhe gebot der Graf Halt, die Berittenen verharrten.

  Von der Hügelkuppe aus sahen sie die Bischofsstadt vor sich. Die Türme der Kirchen und der Stadtmauer von Halberstadt hoben sich als schwarze Umrisse vom mondhellen Himmel ab. Glockenschlag drang an die Ohren der Reiter, die Halberstädter Kirchen läuteten zum weihnachtlichen Gottesdienst.

  Jetzt hieß es zu warten. Die Reiter wickelten sich enger in ihre Umhänge oder Mäntel. Sie froren, beißend pfiff der Ostwind über die Hügelkuppe. Ihre Gesichter, die Hände, die Füße – alles schien zu Eis erstarrt zu sein. Doch auf dem Torturm regte sich nichts.

  Langsam wird es Zeit, dass etwas geschieht, zuckte es Bernhard von Heimburg durch den Kopf. Verdammt, warum geben die Kerle nicht das vereinbarte Zeichen? 

Schon am Nachmittag hatte er drei seiner Burgleute nach Halberstadt geschickt, die in der Anwendung des unauffälligen Einsickerns in eine ummauerte Stadt geübt waren. Zum Teufel, wo bleiben sie bloß? Ist jemand auf sie aufmerksam geworden – die Stadtwächter vielleicht?

  Der Graf warf einen Blick auf seinen Neffen. Bernhard von Regenstein nagte an der Unterlippe, er wirkte nervös wie ein Jagdhund vor der Sauhatz.

  Da ... ein Lichtsignal. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Bernhard von Heimburg auf den Turm des Gröpertors. Dort blinkte es, dreimal kurz hintereinander. Bernhard von Regenstein hob den Arm: Los! 
  Die Entfernung bis zur Stadtmauer betrug noch etwa 250 Doppelschritte. Nach der Hälfte der Distanz gabelte sich der Fahrweg, der rechte Abzweig verlief zum Burcharditor, der linke hielt in einem Bogen auf das Wassertor zu. Die Berittenen blieben auf dem Hauptweg, der schnurgerade zum Gröpertor führte.

  Als sie sich dem Mauerturm auf ungefähr zehn Pferdelängen genähert hatten, schwang das Tor knarrend auf. Das Mondlicht riss drei vermummte Gestalten aus dem Dunkel. Graf Bernhard nickte den Vermummten zu, dann kletterten er und seine Begleiter aus dem Sattel.

  Ursprünglich hatten die Heimburger Grafen vorgehabt, ihren Ritt bis in die Domfreiheit fortzusetzen. Nun jedoch glaubten sie, dass es besser sei, die Pferde unter dem Schutz der Burgleute, die am Nachmittag in Halberstadt eingesickert waren, und einigen weiteren Waffenknechten vor dem Gröpertor zurückzulassen.

  Den Rest der Strecke, die es noch zu bewältigen galt, wollten sie zu Fuß zurücklegen. Es gab keine Zeit zu verlieren. 

  Während sie durch das Torgewölbe eilten, sahen sie neben der rechten Turmwand einen leblosen Körper liegen. Hinter dem Gröpertor teilten sie sich in drei Gruppen auf und tauchten im Gewirr der Gassen unter.

  Schwarz und düster lagen die freigeschaufelten Gassen vor ihnen. Der Mondschein, der draußen die schneeigen Flächen mit silbrigem Licht überflutet hatte, entrückte die Fußwege selten der Dunkelheit.

  Stellenweise war der Schnee mannshoch zur Seite geräumt worden. Die Maßnahme, die Pferde zurückzulassen, war richtig gewesen. Ein mehrere Reiter starker Trupp hätte die Gassen nicht unbemerkt passieren können. Zu Fuß blieben sie unentdeckt, kein Mensch kreuzte ihren Weg. 

 Unbehelligt erreichten Bernhard von Heimburg und seine Begleiter die Domfreiheit. Aus dem Dom St. Stephanus und St. Sixtus drang Gesang, die Kirchgänger sangen einen Choral. Die Eingedrungenen näherten sich bereits dem Domportal – da geschah es.

  Plötzlich wuchsen drei schattenhafte Gestalten vor ihnen auf, als hätte die Erde sie ausgespien. Die Gestalten hielten Spieße in den Fäusten.

  Noch bevor Bernhard von Heimburg seine Überraschung abschütteln konnte, hatte sein Neffe mit gleichem Namen bereits sein Schwert herausgerissen und sprang nach vorn. Der mittlere Mann schaffte es nicht rechtzeitig genug, seinen Spieß vorzustrecken. 

  Der Graf vernahm einen gurgelnden Laut. Aus dem Mund des angegriffenen Mannes quoll ein Blutstrom, das war im spärlichen Mondlicht deutlich zu erkennen. Und dann sollte es die nächste Überraschung geben. 

  Denn statt ihrem Gefährten beizustehen, ergriffen die beiden anderen Männer die Flucht. Einer verschwand in der Dunkelheit, der andere stürmte auf das Domportal zu. Noch während er die schmiedeeiserne Klinke herunterdrückte und die massive Tür aufriss, brüllte er aus Leibeskräften. Der Choralgesang verstummte.

  Bernhard von Heimburg verfluchte die Ungeduld seines Neffen. Und er verfluchte sich selbst dafür, dass er den Spitzelberichten uneingeschränkt Glauben geschenkt hatte. Die Strolche hatten nur die Anzahl der Torwachen gekannt. Dass die Stadtknechte innerhalb der Umfassungsmauer einen Streifendienst versehen würden, davon war nicht die Rede gewesen.

  Graf Bernhards Gedanken jagten sich. Wäre es nicht am vernünftigsten, umgehend den Rückzug zum Gröpertor anzutreten? Aber eben jetzt spürte er auch, wie der Hass und der Wunsch nach Rache ihn zu zerfressen drohte. Ach was, grollte er in Gedanken, wir werden dem Pfaffengezücht den Teufel austreiben!

  Obwohl der Plan in allen Einzelheiten besprochen worden war, schrie er Ulrich von Regenstein noch einmal zu, was jetzt zu tun sei. Der jüngste Sohn des toten Bruders sollte mit einigen Männern die Domtür absichern, falls in ihrem Rücken etwas Unvorhergesehenes passieren würde.

  Dann hob der Graf das Schwert und drang in das Langschiff ein. Der Trupp seiner Waffenknechte schloss sich ihm an. Im Licht der Kerzen und Wandlichter, die das Dominnere erhellten, starrten sie mehrere hundert Gesichter an. Verzerrte Gesichter mit schreckweiten Augen.

  Auf dem Altar brannten zwei voluminöse Kerzen. Zwischen ihnen, die Arme ausgestreckt, stand ein schwarz gekleideter Prediger. Doch um dem Kuttenkerl den Schädel spalten und vor allem die edelsteinbesetzten Heiligenbilder, die kostbaren Kelche und das Altargeschirr einsacken zu können, mussten die Beutejäger erst einmal bis dorthin vordringen.

  Sowohl in den seitlichen Laufgängen als auch im Gang in der Mitte des Kirchenschiffs zwängten sich die Gläubigen aneinander wie Fische im Korb. In Bernhard von Heimburg stieg jähe Wut hoch. Irgendwie lief alles nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.

  Wild hackte seine Schwertklinge in einen grauhaarigen Menschenschädel. Knochen splitterten, Blut spritzte. Nun stachen und droschen auch seine Gefolgsleute auf die wehrlosen Menschen ein.

  Ein blutiges Gemetzel setzte ein. Fleischfetzen und zuweilen noch zuckenden Gliedmaßen rutschten über den Boden. Gellende Schreie erfüllten das Langschiff. Todesschreie.

  Über die Erschlagenen wälzten sich die Eindringlinge dem Altar zu. Bald würde der Domschatz ihnen gehören.    

  Doch sie kamen nur Schritt für Schritt voran. Die Menschen drängten sich wie eine Herde verängstigter Schafe aneinander, sodass sich die Eindringlingen beinahe gegenseitig erschlagen hätten. Und dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.

  Durch eine Seitenpforte huschte ein Gerüsteter in das Kirchenschiff, ein zweiter folgte, ein dritter, vierter, fünfter, immer mehr ... Zudem klangen Glockenschläge auf. Aber diesmal riefen sie keine Gläubigen zur Andacht, sondern läuteten Alarm. Und nicht nur das.

  Jetzt hörte Bernhard von Heimburg auch am Domausgang die Waffen klirren. Er löste sich aus dem Gedränge und blickte gehetzt in die Runde. Im rechten Laufgang stürzten zwei seiner Burgleute, von den Waffen der plötzlich aufgetauchten Gegner tödlich getroffen zu Boden.

  Der Graf glaubte, in der gegnerischen Schar Rudolf von Dorstadt, den bischöflichen Stiftshauptmann und Mörder seines Bruders Albrecht auszumachen. Aber so genau war das in dem Durcheinander und den herrschenden Lichtverhältnissen nicht zu erkennen.

  Genau wusste er indes, dass etwas nicht Vorhersehbares ihren Plan durchkreuzt hatte. Sie saßen in der Falle. Und wenn sie sich nicht sofort auf dem Stiefelansatz umdrehten und aus der geweihten Stätte verschwanden, würde man sie hier abschlachten wie Vieh.

  Bernhard von Heimburg brüllte den Befehl zum Rückzug. Aber sein Gebrüll ging im Tumult unter. Die meistern seiner Leute verstanden nicht, was er schrie ...

Später hätte der Graf nicht zu sagen gewusst, wie er und seine Neffen es geschafft hatten, aus dem Kirchenbau zurückzuweichen, zum noch offenen Gröpertor zu hasten, aufzusitzen und zu flüchten.

Ihr bewaffnetes Aufgebot war bei dem Unternehmen um die Hälfte dezimiert worden, ohne dass die Verluste durch einen nennenswerten Erfolg hatte aufgewogen werden können. Keiner von ihnen hatte den Domschatz überhaupt zu Gesicht bekommen.

Blieb als Tatsache, dass der Einfall, am Weihnachtstabend den Halberstädter Bischofssitz plündern zu wollen, zum Reinfall geworden war. Das Absinken der Regenstein-Heimburger Harzgrafen in die Bedeutungslosigkeit war besiegelt worden.

Blut, Beute und Bittgebet
Blut, Beute und Bittgebet
Deutsche Raubritter im 13. und 14. Jahrhundert
von Bernd Stephan
Sachbuch
ISBN 978-3-7380-8032-2

203 Seiten, 29 Abbildungen, eBook
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