Benford, Gregory: Artefakt
Heyne Science Fiction 4363
ISBN 3-453-31366-6
Originaljahr: 1985 deutsch 1987
Übersetzung: Walter Brumm
Titelbild: Klaus Holitzka (nach Dan Gonzalez)
497 Seiten (plus 9 Seiten physikalische Erläuterungen durch den Autor)
ACHTUNG!!! Vorwarnung:
Normalerweise deutet man ja in einer Rezension, um dem nachmaligen Leser nicht allzu viele von der Spannung zu nehmen, nur kleine Appetithäppchen der Handlung an. Dies ist bei diesem Buch schlichtweg nicht möglich. Wer also das Buch irgendwann einmal lesen will (und das sollte man, denn es ist einer der wirklichen modernen SF-Klassiker!!!), nimmt also hier das folgende nicht zur Kenntnis und springt sofort zu den beiden letzten Absätzen.
Wer dennoch weiterlesen will:
Griechenland irgendwann Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Lage ist gespannt, eine zwar linksgerichtete, aber auch extremnationalistische Gruppierung meist jüngerer Offiziere ist dabei, die Stimmung im Lande zu schüren. Leidtragende sind außer den immer unliebsamen Nachbarn (Türken) auch die anderen westlichen NATO-Staaten und ganz besonders die Amerikaner. Selbst politisch unbeteiligte Archäologen wie die etwas altjüngferlich wirkende Claire Anderson und ihr Assistent George, die nur noch die Arbeiten an einer gemeinsamen griechisch-amerikanischen Ausgrabung auf einem Hügel direkt an der Küste des westlichen Peloponnes abschließen sollen, geraten in diese Entwicklung – umso mehr, als der Grabungsleiter Kontos nicht nur als Oberst der „Junggriechen“ einer der Scharfmacher ist, sondern auch noch ein gesteigertes Interesse an Claire als Sexualobjekt an den Tag legt. Nach einer heftigen Auseinandersetzung und ihrer Zurückweisung schränkt er ihre Arbeitszeit auf nur noch zwei Wochen ein, was Claire in heftige Probleme bringt, haben sie doch gerade in einem verschlossenen Nebenraum der Grabkammer (einer natürlichen Höhle) ein wahrlich ungewöhnliches Artefakt entdeckt: einen ein mal ein Meter großen kubischen Steinquader, an dessen Vorderseite ein Horn aus Bernstein angebracht ist, in dem manchmal Lichtblitze zu sehen sind. Schriftzeichen an der Rückseite weisen ihn als sehr alt, noch aus frühminoischer Zeit aus, ein Elfenbeinplättchen mit einer Karteneinritzung verwirrt zusätzlich.
Für Claire ist dies so etwas wie der wirklich „große Fund ihres Archäologenlebens“, und sie setzt alles daran, ihren wissenschaftlichen Ruf damit zu verknüpfen. Flugs reist sie nach Boston zurück und überredet John Bishop vom M.I.T. zu einem schnellen Trip zurück zur Fundstätte, damit dieser mit einigen Geräten aus dem metallurgischen Institut dort Messungen an Meißel- und anderen Spuren machen kann. Nach drei Tagen wieder zurück, stellt man an Ort und Stelle fest, dass diese Messungen immer neue Rätsel hervorbringen...obwohl Bishop gar kein Metallurg ist, sondern Mathematiker und Physiker, der sich nur zufällig am Metallurgischen Institut befand, um Forschungen für eine mathematischen Messreihe zu machen, aber auch er ist fasziniert vom Steinquader wie der resoluten und doch anziehenden Claire....Weitere Untersuchungen werden vom wieder einmal kontrollierenden Kontos unmöglich gemacht, der den Fund ebenfalls überrascht zur Kenntnis nimmt, aber die Amerikaner sofort nach Athen verfrachten und unter dem Vorwand des Altertumsschmuggels ausweisen lässt. Es gelingt ihnen jedoch, am Flugplatz sich in eine Inlandsmaschine zu schmuggeln und über Kreta nach Thera (Santorin), der ehemals großen, durch einen gigantischen Vulkanausbruch (so die bisherige Theorie..) in minoischer Zeit zerstörten Insel zu kommen. Dort chartern sie ein Boot, setzen wieder zum Festland über und versuchen, den Block abzutransportieren, den Kontos, um später eigenen wissenschaftlichen Entdeckerruhm zu erlangen, in der Nebenkammer belassen hat. Das Artefakt entgleitet ihnen jedoch und stürzt unglücklich durch einen schmalen ausgewaschenen Schacht des Höhlenraum hinab ins Meer, woraus sie ihn dann (da Bishop auch noch Hobbytaucher ist) doch noch bergen und über Italien nach Boston bringen können.
Hier setzt nun eine Untersuchung des Artefakts ein, nicht an Claires eigener Universität, sondern am M.I.T.; während Claire wissenschaftlicher Ruf ohnehin durch den „Diebstahl“ des Kulturguts gelitten hat, ihr Vorgesetzter wie der aus Griechenland wütend anreisende Kontos ihr zusetzen und die beiden Universitäten untereinander sich um das Recht auf Untersuchung streiten, stellt sich heraus, dass dies nicht nur ein aus archäologischer, sondern in jeder anderen Ansicht auch rätselhafter Fund ist. Der Bernsteinhornzapfen zeigt vermehrte Lichtblitze, in einem schmalen Verschlussstück am gegenüberliegenden Ende gibt es sonderbare Metallverbindungen, der Quader selbst weist völlig unerklärliche physikalische Phänomene wie Gravitationsschwankungen ins einem Umfeld auf. Bishop und andere entwickeln die faszinierende Theorie, dass in dem Kalkstein eine winzige Singularität, ein „Schwarzes Loch“ eingeschlossen ist, doch bevor noch weitere Ergebnisse zustande kommen, wird das Fundstück von Kontos und einigen Helfern aus der griechischen Militärtruppe gestohlen und über den Bostoner Hafen auf ein Schiff gebracht. Dieses sinkt jedoch wenige Meilen vor der Küste, wobei der Quader geborgen wird, aber inzwischen gefährliche Radioaktivität ausstrahlt.
Das ganze wird nun zu einer Sache der Nationalen Sicherheit, nicht nur, weil inzwischen in Griechenland der Militärputsch gelungen, das Land die NATO verlassen und sich in einen ebenso unklugen wie abnutzenden kriegsähnlichen Zustand mit der Türkei begeben hat. Der Quader allerdings muss wieder zurückgebracht werden zu einen jener Fundstelle, denn. als Rätsels Lösung hat man inzwischen die Existenz eines Zwillingspaare von Mini-Black Holes postuliert. Eines davon ist beim Herabstürzen des Quaders ins Meer entwichen, und da beide sich anziehen und vereinen wollen (was mit unvorhersehbaren Folgen verbunden sein könnte), gräbt sich die „freie“ Singularität nun gerade unter dem Atlantik hindurch in Richtung Boston. Mit Hilfe der Sechsten Flotte wird nicht nur das Artefakt wieder zurückgebracht (wobei Kontos und seine Schergen ein höchst ungewöhnliches Ende, nämlich durch eben das zurückgleitende Mini Black Hole, finden...), sondern schließen sich die beiden Singularitäten wieder halbwegs friedfertig zusammen.
Aus Sicherheitsgründen transportiert man sie mit einem Shuttle in den Weltraum. Außer Bishop, der die physikalisch-mathematischen Theorien gemeistert hat, hat auch Claire den wissenschaftlichen Ruhm, kann sie doch die faszinierende Deutung des Artefaktes darstellen: der tote König aus der Grabkammer neben der Artefakthöhle war jener Mutige, der in die Höhlen von Santorin hinunterstieg, um dort den Steinblock heraufzubringen, in dem sich beide strahlenden, sprühenden Singularitäten umkreisten.... und damit, in der Verehrung der damaligen Griechen, die große Gefahr (der später, als vermutlich andere Singularitäten sich explosionsartig vereinten, die Insel Santorin zum Opfer fiel) den bösen Geist bannte, aus dem dann die Legende vom Minotaurus wurde....
Das klingt alles selbst in der Zusammenschau atemberaubend, manchmal sogar mit Anklängen an Satire oder esoterisch angehaucht , ist jedoch vom Autoren völlig ernst gemeint, und, da Benford einer (der viel zu wenigen...) Wissenschaftler unter SF-Autoren ist, ist das wissenschaftlich auch sehr gut belegt und nachvollziehbar (sofern es der in diesem Gebiet sehr unbedarfte Rezensent beurteilen kann...). Und Benford ist auch in der Lage, die wissenschaftlichen Hypothese, Theorien und Spekulationen in eine ansprechende, logische, spannende Handlung zu verpacken (bei den politischen Entwicklungen muss man natürlich die Entstehungszeit des Buches, noch im Kalten Krieg, beachten, sind die leicht „fanatischen“ Handlungen der Griechen-Hauptpersonen etwas übertrieben, und auch an der Allmacht amerikanischen Militärhandelns tun sich größere Zweifel auf...) und dabei alles gekonnt zu untermischen und zu verbinden: „Hardcore Science Fiction“, die Faszination Archäologie, antike Mythen und Legenden, Kleinkrieg und -gefechte um Forschungsruhm und Wissenschaftsbürokratie, sogar eine weltweite Bedrohung durch die „Schwarzen Löchlein“, und, nebenbei, sympathische und fast immer glaubwürdige Hauptpersonen zu schaffen (wobei Claire und John, nicht verwunderlich, am Ende auch noch vor den Traualtar...).
Alles zusammen macht es zu einem Buch, das man immer und immer wieder lesen kann und will, obwohl man die Handlung mehr als kennt. Und eben das ist die Voraussetzung für einen wahren Klassiker!...bei dem es mich nur wundert, dass es bislang noch nicht Hollywood aufgefallen ist, da es mit den oben genannten Ingredienzien doch allemal besser geeignet wäre denn unsägliche Filme um schmuddlige, „indianische“, peitschenschwingende Pseudowissenschaftler....
Das Buch ist zwar (20 Jahre seit dem Erscheinen) wohl nur noch antiquarisch zu haben, aber: Besorgen, Lesen! Lesen!! Lesen!!!