Colin, Fabrice: Mary Wickford
Mary, so zeigt sich, verfügt über geheime Kräfte. Sie ist eine Hexe, und eine besonders machtvolle dazu. Das weiß auch der mysteriöse Imperator von Amerika, der ihre Fähigkeiten für seine eigenen Zwecke missbrauchen will. Schon bald sieht sich Mary mit einer Vielzahl unterschiedlicher Mächte weltlicher wie magischer Natur konfrontiert. Auf der Flucht vor ihren allgegenwärtigen Häschern muss sie erkennen, dass der Schlüssel zu ihrer Freiheit in ihrer Vergangenheit liegt und dass ihr eigenes Schicksal den Lauf der Welt verändern könnte ...
»Mary Wickford« beginnt großartig. Fabrice Colin, seines Zeichens Autor zahlreicher erfolgreicher Romane und Graphic Novels, entführt seine Leser in eine faszinierende Welt, die dem 18. Jahrhundert, wie wir es aus dem Geschichtsunterricht kennen, ähnlich ist, sich aber durch so manch (magischen) Aspekt davon unterscheidet. Die Existenz von Drachen und Zauberei sowie ein fanatischer katholischer Imperator, der über das amerikanische Festland herrscht, sind nur einige dieser Besonderheiten.
Die ersten Seiten von »Mary Wickford« verstehen es wahrlich zu fesseln. Die Story hat genau das richtige Tempo, um ihre Wirkung zu entfalten und eine herrliche, stimmungsvolle Atmosphäre zu erzeugen. Die Mischung aus Steampunk, Märchen und Jane Austen, gepaart mit so manch originellem Einfall, macht es nahezu unmöglich, dem Charme der Geschichte nicht zu erliegen.
Dann allerdings lässt sich Mary in Old Haven nieder. Und das ist der Anfang vom Ende. Von diesem Moment an setzt eine Abwärtsspirale ein, die bis zum ungemein schwachen, viel zu vorhersehbaren Finale des Romans nur in ganz wenigen Ausnahmefällen noch einmal durchbrochen wird.
Woran liegt dieser rasante Abfall, wo doch der Auftakt so stark war? Um nur mal einige Aspekte anzuführen:
Die Charaktere des Buchs wirken samt und sonders seltsam unfertig und ohne echte Tiefe. Allen voran ist hier Mary zu nennen, die Ich-Erzählerin des Romans. Es gelingt Colin einfach nicht, seiner Hauptprotagonistin nennenswerte Charakterzüge zu verpassen. Schlimmer noch: Im Laufe der Geschichte wird einem die Figur regelrecht unsympathisch, weshalb man sich spätestens im dritten Teil eher durch das Werk quält, als dass man Freude daran hätte.
Colin will storytechnisch zu viel. Steampunk, Märchen und Jane Austen ergeben eine tolle Mischung, doch leider begnügt sich der Autor damit nicht. Munter und oftmals wahllos packt er Elemente aus Abenteuer- und klassischen Fantasyromanen in die Story, ebenso wie Bausteine aus Werken von Autoren wie Dickins, Lovecroft und Verne. Je länger man liest, umso mehr hat man das Gefühl, ein überfrachtetes Potpourri nicht zueinander passender Zutaten vor sich zu haben.
Nach dem etwas gemächlichen, aber äußerst passenden Auftakt dreht Colin das Tempo des Romans mit etwa Seite hundert deutlich auf. Das heißt aber nicht mehr Action und Spannung, sondern schlägt sich in einer sprunghaften Erzählweise und vielen allzu knapp abgehandelten Szenen nieder. Mit der fantastische Stimmung der ersten Seiten geht es so nach und nach den Bach hinunter.
Das sind, wie gesagt, nur einige Beispiele dafür, warum »Mary Wickford« nach etwa hundert Seiten spürbar an Reiz verliert und den Leser mehr und mehr langweilt, statt ihn gut zu unterhalten. Der Autor hat viele großartige Ideen, doch es gelingt ihm einfach nicht, sie intelligent umzusetzen. Mit jedem neuen Kapitel verliert er seine Leser mehr, und aus dem Buch, das so wundervoll begonnen hat, wird ein Machwerk, das man immer öfter nur noch überfliegt.
»Mary Wickford« ist der Beleg dafür, dass Autoren trotz exzellenter Einfälle an einem Buch scheitern können. Der Roman wird, so traurig das auch ist, mit jeder Seite schlechter. Aus diesem Grund kann man es guten Gewissens eigentlich niemandem empfehlen.
Schade, schade, schade. Dabei hat es doch so gut angefangen ...