Lake, Nick: Im Königreich der Kälte
Lights Vater ist Polarforscher. Als er während einer Mission in die Arktis spurlos verschwindet und auch nach sechs Monaten nicht wieder auftaucht, wird er für tot erklärt. Light ist allerdings überzeugt davon, dass ihr Vater noch lebt. Am Tag seiner symbolischen Beerdigung wird ihr Verdacht bestätigt wenn auch auf andere Weise, als ihr lieb ist.
In ihrem Haus wird
Light von zwei unheimlichen Männern angegriffen. Nur mit Mühe
entkommt sie den beiden und mit der Hilfe von Tupilak, einem
Wesen, das teils Mensch, teils Hai und teils Eisbär ist.
Nachdem sich Light von ihrem ersten Schreck erholt hat (schließlich muss man nicht jeden Tag feststellen, dass Märchengestalten tatsächlich existieren!), erfährt sie den Grund für den Überfall der schaurigen Männer: Diese sind Schergen von Frost, einem unheimlichen Monster, dessen finsteres Reich am Nordpol liegt. Aus einem unbekannten Grund hat Frost Lights Vater gefangen und versucht nun, auch sie in seine Klauen zu bekommen. Tupilak wiederum wurde dem Mädchen von einer Gegenspielerin Frosts zur Hilfe geschickt.
Fest entschlossen, den Kampf gegen Frost aufzunehmen und ihren Vater zu befreien, begibt sich Light in Begleitung einiger ungewöhnlicher Gefährten auf eine gefahrvolle Reise in das Königreich der Kälte ...
»Im Königreich der Kälte« ist ein modernes Märchen, das die klassischen Sagen und Legenden der Inuit-Mythologie in ein modernes Gewand kleidet. Unter Verwendung einiger dichterischer Freiheiten verwebt Nick Lake die gnadenlose Mythenwelt des hohen Nordens mit einer abenteuerlichen Geschichte über eine Reise bis an die Grenzen der Erde.
Lakes Roman ist in erster Linie als Buch für jüngere Leser gedacht. Aus diesem Grund hat er so manche Sage beträchtlich weniger brutal beschrieben, als dies in den eigentlichen Erzählungen der Fall ist. Davon sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen: Für einen All Age-Roman ist »Im Königreich der Kälte« überraschend hart und mitunter auch erbarmungslos. Die Umschreibung Märchen trifft den Kern der Sache daher, wie ich finde, recht gut, vereint Lakes Buch doch, ganz wie es die gesammelten Werke der Gebrüder Grimm tun, eine Vielzahl ebenso phantastischer wie unheimlicher Elemente mit einer Handlung voll Gefahren, finsterer Schurken und, wie erwähnt, einer nicht zu unterschätzenden Portion Härte. Für Leser unter dreizehn Jahren ist der Roman daher eher ungeeignet. Jugendliche (wie auch erwachsene) Leser, die mythologisch angehauchte Erzählungen mögen, werden dagegen ihre Freude an dem Buch haben.
Was die eigentliche Story betrifft: Die Mischung aus Märchen und phantastischem Abenteuer, die Lake zum Besten gibt, weiß im Großen und Ganzen zu überzeugen, hat jedoch durchaus ihre Schwächen. Immer wieder kommt es vor, dass der Autor das Geschehen zu schnell vorantreibt. Dem Leser bleibt kaum Zeit, sich auf das gerade beschriebene Setting einzulassen, schon springt die Handlung zur nächsten Szene. Gerade bei einem Roman wie »Im Königreich der Kälte« ist dies schade, taucht der Leser hier doch in eine Sagenwelt ein, die ihm (in den meisten Fällen jedenfalls) weitestgehend unbekannt ist. Die einzelnen Passagen hätten oft mehr Zeit und Raum benötigt, sich zu entfalten. So verlässt man einen Szene häufig mit dem Gefühl, nur an der Oberfläche dessen gekratzt zu haben, was man eigentlich aus der Story hätte rausholen können.
Wenig zu sagen gibt es in Hinblick auf die Protagonisten. An sich gut gezeichnet, fehlen ihnen echte Ecken und Kanten, die sie wirklich glaubhaft gemacht hätten. Doch auch so hat man keine Mühe, sich mit Light und ihren Begleitern anzufreunden und an ihrer Seite in den Kampf gegen Frost zu ziehen.
Was der Roman ein wenig vermissen lässt, sind echte Gefühle. Dies ist vor allem dem kalten, hartherzigen mythologischen Hintergrund der Geschichte geschuldet, der das Aufkommen wahrhaft bewegender Momente aufgrund der eher nüchtern wirkenden Legenden kaum zulässt. Von einem echten Mangel kann man aber nicht reden, ist die Inuit-Mythologie doch zentraler Bestandteil des Werks. Mir allerdings hat der emotionale Anspruch gefehlt, weshalb mich der Roman zwar nett unterhalten, seiner dramatischen Story zum Trotz aber nicht sonderlich berührt oder bewegt hat.
Sehr gelungen ist die Aufmachung des Buchs. Die kantigen Illustrationen von Liane Payne harmonieren erstklassig mit dem harten Ton der Inuit-Mythen. Zudem spielt Lake mit verschiedenen Gestaltungsbausteinen. So darf man sich beim Lesen immer wieder auf Einsprengsel wie Zeitungsausschnitte oder (vermeintlich) handgeschriebene Briefe freuen. Diese Art, einen schlichten Text aufzulockern und anzureichern, findet man leider noch viel zu selten.
Alles in allem ist Nick Lake mit »Im Königreich der Kälte« ein spannendes, gut zu lesendes Debüt gelungen. Überragend ist der Roman zwar nicht, doch schon alleine der ungewohnte mythologische Background der Handlung macht das Buch einen Blick wert. Leser von Philip Pullman oder Kai Meyer, Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen, dürften an diesem Märchen viel Freude haben.