Meyer, Kai: Die Geisterseher
Man schreibt das Jahr 1805. Als die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm den berühmten Dichterfürsten Friedrich von Schiller besuchen, liegt dieser im Sterben. Mit letzter Kraft überreicht ihnen der todkranke Mann ein versiegeltes Manuskript, das sie zu seinem alten Freund Johann Wolfgang von Goethe bringen sollen. Bevor Jacob und Wilhelm dem Wunsch allerdings nachkommen können, wird ihnen das Schriftstück auf offener Straße gestohlen. Der Täter entkommt unerkannt.
Für die beiden
mittellosen Studenten ist dies der Beginn einer mörderischen
Hetzjagd. Dunkle Mächte haben es auf das letzte Werk Schillers
abgesehen. Die Gebrüder Grimm geraten in ein Netz aus Intrigen,
finsteren Geheimbünden, uralten Mysterien und brutaler Mörder. Doch
welches Geheimnis könnte es sein, das Schillers Manuskript so
begehrt macht?
»Die Geisterseher« ist ein abenteuerlicher und sehr unterhaltsamer Roman vor historischer Kulisse. Etwas wirklich Besonderes ist er allerdings nicht; da ist man von Kai Meyer ganz anderes gewöhnt.
Dass das Buch nicht mit anderen Werken des Autors mithalten kann, liegt vor allem an zwei Aspekten. Zum einen ist hier der Erzählstil des Romans zu nennen. Meyer bemüht sich um eine bewusst altmodisch anmutende Sprache, was einmal sicherlich dem beabsichtigten Feeling geschuldet ist, aber auch daran liegen dürfte, dass die Geschichte aus der Sicht von Wilhelm Grimm erzählt wird. Als Kind seiner Zeit stünde es diesem nicht gut zu Gesicht, würde er sich allzu vieler moderner Formulierungen bedienen. Infolgedessen ist die Sprache des Romans sehr blumig und reich an ausführlichen Beschreibungen und ebenso antiquiert wie umständlich wirkenden Wendungen, die den Lesefluss mitunter arg ins Stocken bringen. Dass man den Roman trotz des hin und wieder schwerfällig erscheinenden Erzählstils genießen kann, ist Meyers schriftstellerischem Talent hoch anzurechnen. Darüber hinwegtäuschen, dass sich die Lektüre von »Die Geisterseher« zeitweilig als anstrengend gestaltet, kann es allerdings auch nicht.
Das zweite Manko des Romans ist die Unentschlossenheit der inhaltlichen Ausrichtung. Als unheimlicher Roman wird das Buch auf dem Cover angekündigt. Von dieser Umschreibung sollte man sich nicht täuschen lassen. »Die Geisterseher« ist vieles, aber unheimlich bestimmt nicht. Meyers Buch erweist sich aus eine Mischung von Historienroman, Religionsthriller, Spionageabenteuer und noch einiger anderer Gattungen mehr. Was dabei am Ende herausgekommen ist, ist leider weder Fisch noch Fleisch. Meyer bedient sich verschiedener Elemente der genannten Gattungen, ohne jedoch ihre jeweiligen Stärken voll auszuspielen. Bevor es dazu kommen kann, hat er sich schon wieder dem nächsten Genre zugewandt. Das führt dazu, dass man weder als Freund historischer Krimis noch irgendeiner anderen Erzählrichtung wirklich auf seine Kosten kommt. Eine etwas klarere Linie wäre von daher durchaus wünschenswert gewesen.
Man sollte sich von den genannten Schwächen allerdings nicht abschrecken lassen, einen Blick in »Die Geisterseher« zu riskieren. Der Roman mag letzten Endes nicht das ganz große Highlight in Meyers Karriere sein; spannende Lektüre bietet er allerdings in jedem Fall.
Auch wenn die Handlung bezüglich der Genres ein wenig zu unentschlossen geraten ist, so übt die Story dennoch eine ungemeine Faszination auf den Leser aus. Meyer verknüpft reale Ereignisse und Personen mit einer Vielzahl fiktiver, mitunter reichlich phantastisch anmutender Handlungsstränge. Der Leser wird dadurch schnell hineingezogen in eine Welt, in der Wahrheit und Dichtung nicht mehr zu unterscheiden sind. Fesselnde Szenarien und die stete Frage, ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit hinter der Erzählung stecken könnte, machen die Lektüre zu einem ebenso spannungsvollen wie faszinierenden Erlebnis.
Keinen Fehler erlaubt sich Meyer hinsichtlich der Protagonisten des Romans. Sowohl der Ich-Erzähler Jacob Grimm als auch alle übrigen Charaktere aus »Die Geisterseher« sind lebendig gezeichnet und führen exzellent durch die Handlung.
Ebenso überzeugend: die Atmosphäre des Romans. Mag die die auf altertümlich zurecht gemachte Sprache die Lektüre von »Die Geisterseher« auch erschweren, so trägt sie doch, gemeinsam mit der gelungenen Beschreibung von Schauplätzen und Charakteren sowie der hervorragenden Zeichnung der Protagonisten, zu einer mysteriösen, den Leser packenden Stimmung bei. Man fühlt sich regelrecht versetzt in die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts.
»Die Geisterseher« ist ein spannendes, in mancher Hinsicht leider etwas unausgegorenes Historienabenteuer. Wer Werke wie »Tod und Teufel« von Frank Schätzing oder Meyers Roman »Loreley« zu schätzen weiß, der sollte das Frühwerk des deutschen Bestsellerautors unbedingt zur Hand nehmen. Kein Meisterwerk, gewiss nicht. Stimmungsvoll und faszinierend aber in jedem Fall.
Kommentare
Ja, er äußert sich - in der nächsten Tellerrand-Kolumne.
Was ich allerdings nicht ganz nachvollziehen kann, ist Deine Weigerung das Buch zur unheimlichen Literatur zu zählen. Eigentlich hat die Geschichte alles, was wir auch in klassischen Schauerromanen finden. Ich versuche mich einmal an ein paar Dinge zu erinnern. Es ist schon ein Weilchen her, das ich den Roman gelesen habe. Da sind z.B. die nächtliche Exumierung auf dem Friedhof, die Kutschfahrt durch die Nacht, die ägyptische Loge, die Szenerie um E.T.A. Hoffmann. Stilmittel wie die Nacht als Handlungsraum, unheimliche Begegnungen, das Spukhaus usw. In meinen Augen ist der Roman ein klassischer unheimlicher Roman wie aus der Feder von Autoren wie Hoffmann, Lovecraft, Stoker, Blackwood, Ewers, Meyrink u.a.
Vielleicht sogar eher diesem Genre, als dem Historischen zuzuordnen. Denn wie Meyer im Nachwort selbst sagt hat er die Geschichtlichen Fakten sehr frei benutzt. Aber historisch ist OK, viel eher als Thriller, Krimi oder Abenteuer. Und der Diebstahl von Schillers zweitem Teil des Geistersehers ist eher nur der Aufhänger um die Grimms in die unheimliche Geschichte zu ziehen, nicht wirklich ein Indiz für einen Kriminalroman.