Gespenster und die Wissenschaft - Pareidolie
2016 immerhin gelang es mir, einen Auszug zu einem Vortrag zusammenzufassen, den ich 2016 und 2018 gehalten habe. Manfred Roth war so freundlich gewesen, ihn in gedruckter Form verfügbar zu machen, doch handelte es sich dabei lediglich um das Skript zum Vortrag, aber keinen Aufsatz im eigentlichen Sinne. Das hole ich nach freundlichem Zureden Horst von Allwördens an dieser Stelle nach.
Pareidolie
Was sehen Sie auf der angefügten Grafik? Punkt, Punkt, Komma, Strich… Ist es also ein Mondgesicht? Mitnichten! Nur eben zwei Punkte, ein Komma, ein runder Strich und ein Kreis drum herum! Alles andere entsteht in unseren Kopf…
Woran liegt das?
Nun, wenn unsere Vorfahren im Gestrüpp ein Paar Augen und einen getüpfelten Schwanz gesehen haben, dann hätten sie sich sagen können: Zwei Augen und ein Schwanz können mich nicht fressen. Damit hatten sie dann aber auch schon verloren. Wer im Dickicht der Baumkronen überleben will, muß in der Lage sein, auch den verborgenen Feind zu erkennen. Dazu wird das Wenige, das man wahrnimmt, mit Bildern im Gedächtnis abgeglichen, und auf dieser Basis vervollständigt. Das ist das Prinzip der Pareidolie.
Zu den Bildern im Gedächtnis ist zu sagen, daß natürlich diejenigen bevorzugt werden, die ohnehin präsent sind, etwa weil sie häufiger abgerufen werden, oder weil man sie in der entsprechenden Situation erwartet. In einem Schemen im Augenwinkel erkennt man also eher den Postboten, als eine Netzgiraffe.
Ein Spezialfall ist die Frégoli- Illusion. Hier erkennt man die Züge vertrauter Personen in den Gesichtern Fremder. Dies kann sich zu einer Krankheit entwickeln, daß man auch Gegenstände (z. B. Bettwäsche) für die Konterfeis von Bekannten hält.
Als soziale Geschöpfe meinen wir natürlich überdurchschnittlich oft, Mimik und Grimassen auszumachen. Mitschuldig daran sind die sogenannten „Spiegelneuronen“ im präfrontalen Cortex (vorne im Hirn). Sie spielen eine Rolle bei der Nachahmung wahrgenommener Aktionen. Damit denken und empfinden wir so, wie wir glauben, daß es unser Gegenüber tut, und sind entsprechend auf Mienen und Mienenspiel geprägt… und also hat der Mond ein Gesicht!
Ist gar nichts mehr auszumachen, erschafft sich der Bregen eigene Bilder. Dies gilt insbesondere für bedrohliche oder unheimliche Umgebungen mit Geräuschen, die man nicht genau zuordnen kann. Auch neigt er dazu, sich zu den Signalen der anderen Sinne passende optische Eindrücke zu schaffen, um sich ein stimmiges „großes Ganzes“ zusammenzureimen. Dies kommt speziell bei spät Erblindeten vor, die manchmal merken, daß sie nur Hirngespenste erblicken („Charles- Bonnet- Syndrom“), und manchmal glauben, wirklich sehen zu können („Anton- Syndrom“).
Etwas Ähnliches mag auch bei bestimmten Meditationstechniken passieren, wenn Sinnesreize ausbleiben. Wer Alexandra David- Néel gelesen hat, der kennt die Tulpas, dienstbare Wesen in Tibet, die durch pure Einbildungskraft real werden sollen.
Viele Gespenster der Folklore halten sich an abgelegenen Orten auf, seien es verlassene Ruinen und einsame Friedhöfe, seien es unbewohnte Wälder, Sümpfe oder Wegkreuzungen. In Zeiten, da das elektrische Licht noch unbekannt, und Fackeln, Kerzen und Öllampen teuer waren, waren die Nächte dunkler als heute, so daß allein der Schummer Halluzinationen wecken mochte. Hinzu kam, daß die Reisen damals mehr Zeit beanspruchten, und so mancher schläfrige Wanderer, Reiter oder Kutscher mochte in der monotonen Finsternis schließlich Dinge sehen, die gar nicht da waren. Oder aber vage Konturen fehldeuten, bis schließlich die Bäume am Straßenrand als Erlkönige erschienen. Mancherlei Strukturen wie etwa die Astansätze einer Zitterpappel laden auch regelrecht zu solchen Misinterpretationen ein (siehe Foto).
Allerdings muß es sich nicht bei jedem Trugbild um ein Hirngespinst handeln: Wenn man beispielsweise aus dem Dunkeln auf etwas Helles blickt, kann abgestorbenes Zellmaterial im Inneren des Augapfels tatsächlich wie kleine Partikel oder Tierchen wahrgenommen werden (Mouches volantes = „fliegende Fliegen“).