Freund, Wieland - Gespensterlied
Gespensterlied
Ein Junge sitzt in seinem Zimmer und beginnt in einem Heft zu schreiben. Es ist Malte, und das Zimmer, in dem er sitzt, ist sein Jugendzimmer im Gasthof seiner Eltern mit Namen "Grüner Frosch". Er hat eine Geschichte erlebt, die so unglaublich ist, dass er sie aufschreiben möchte. Sie ist so unglaublich, dass die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß ist, dass man sagen wird, er habe sie sich nur ausgedacht. Also sitzt Malte in seinem Zimmer, vor sich die drei dicken Hefte, und beginnt zu schreiben.
Das Fenster von Maltes Zimmer geht hinaus auf die Straße, und auf der anderen Seite der Straße ist eine Wiese mit vertrocknetem Gras, Maulwurfshügeln und einem Briefkasten, der am Rand dieser Wiese steht. Malte sieht etwas ansderes: Er sieht eine Mauer, die das Wiesengrundstück umgibt, ein Tor und ein Verlies. Dann tastet er nach seinem Kopf und findet eine Narbe, die es gar nicht gibt.
Die Geschichte beginnt sehr verwirrend.
Als das Vorwort Maltes vorbei ist und die eigentliche Erzählung beginnt, versteht man zunächst nicht viel mehr: Die Geschichte beginnt damit, dass vor der Mauer, die es im Vorwort gar nicht gibt, ein Fahrzeug hält, dass sich das Tor öffnet, das im Vorwort nicht existiert - und dass offensichtlich auf dem Friedhof, der im Vorwort lediglich eine leere Wiese ist, eine Beisetzung stattfindet.
In diesem Moment wirkte die Geschichte auf mich nicht nur verwirrend, sondern schlicht und ergreifend wirr und unsinnig.
Beim zweiten Anlesen tauchte ich problemlos in die Erlebnisse von Malte und seinem neuen Freund Gottfried von Quast ein - und genoss eine sehr schön gestaltete Geschichte.
Malte und Gottfried lernen sich während des Leichenschmauses kennen und Malte wird durch seine Neugierde und die tatkräftige Verzweiflung Gottfrieds in die Geschichte um den Familienfluch der von Quasts hinein gezogen.
Er erfährt von der tatsächlichen Herkunft des eigenartigen Feldeiesen, lernt Baldanders kennen und wird von dem nicht minder eigenartigen Menschen (so es denn ein Mensch ist) nicht nur ein Mal gerettet.
Mehr und verständlicher über den Inhalt des Buches zu schreiben, würde zu viel Geheimnis offenbaren und zu viel verraten. Der Zauber des Buches liegt eben genau darin, dass man sich in der Verwirrung der beiden Jugendlichen wiederfindet, mit Malte durch die Geschichte stolpert und mit mehr oder minder großen Augen verfolgt, wie Gottfried ihnen so manches Mal mit seinem Einfallsreichtum den Hals aus der Schlinge zieht - oder sie in Schwierigkeiten bringt.
Das Gespensterlied, das dem Buch seinen Titel gibt, ist ein Schlüsselmoment der Geschichte.
Nicht umsonst hat Wieland Freund für dieses Buch den Bayerischen Kunstförderpreis erhalten, und es ist eine hervorragende Idee von Beltz & Gelberg, dieses Buch von 2004 nochmals aufzulegen. Mit seinem Preis von unter 9 Euro ist es wunderbar geeignet für die Zielgruppe ab 11 Jahren.
Sehr subtil schafft Wieland Freund ein Gefühl von Bedrohung, das vollständig auf blutstarrende und grausame Elemente verzichten kann. Es hat eine wunderbare Stimmung, die meiner Ansicht nach genau passend für das Alter ist.
Gar nicht begeistert war ich von der Gestaltung des Buches - die vermutlich dem Preis geschuldet sein wird. Gulliver präsentiert sich in einer orangefarbenen Gestaltung, die sich auf dem Cover und dem oberen Schnitt wiederfindet. Allerdings finde ich den Charme, den das Buch ausstrahlt, in der Covergestaltung nicht wieder.