Gespenster und die Wissenschaft - Hypnagoge Zustände
2016 immerhin gelang es mir, einen Auszug zu einem Vortrag zusammenzufassen, den ich 2016 und 2018 gehalten habe. Manfred Roth war so freundlich gewesen, ihn in gedruckter Form verfügbar zu machen, doch handelte es sich dabei lediglich um das Skript zum Vortrag, aber keinen Aufsatz im eigentlichen Sinne. Das hole ich nach freundlichem Zureden Horst von Allwördens an dieser Stelle nach.
Hypnagoge Zustände
Aber auch Erwachsene können nachts Wesen sehen, die bei Tag nicht da sind. Ich meine damit den klassischen „Alpdruck“ bzw. „Nachtmahr“ im eigentlichen Sinne des Wortes (auch Fylgjur, Buschemänner und ähnliche Fabelwesen passen in diese Kategorie). Ein Mensch erwacht mit dem Gefühl einer Gefahr und spürt ein fremdes Wesen. Es mag auf ihm hocken, liegen oder gar mit Eiseskälte durch die Haut in den Leib eindringen. Oft fühlt er sich gelähmt oder kann sich gar nicht rühren; die Atmung scheint beeinträchtigt und der Puls möglicherweise fremd oder verdoppelt. Teile der eigenen Anatomie können sich anfühlen, als gehörten sie jemand anderem, und die Körperoberfläche kommt einem eventuell vor wie unter Strom.
Die Wesen, die einen heimsuchen, mögen menschlich aussehen, gespenstisch oder auch „der schwarze Mann“ sein, aber fast immer geht ein Gefühl des Grauens von ihnen aus. Als Inkubus oder Sukkubus können sie sogar Sex mit einem haben, und der Legende zufolge einen Wechselbalg zeugen (bzw. gezeugt bekommen).
In der Regel sind solche Kreaturen ziemlich wehrlos gegen das endgültige Erwachen. Versucht man, sie festzuhalten, so lösen sie sich auf. Oder aber sie verwandeln sich in einen alltäglichen Gegenstand, wie etwa einen Teil des Kissens, ein Bettstroh oder aber eine Rippe, die sich unter der eigenen Haut abzeichnet.
Tatsächlich gibt es eine medizinische Erklärung für die sogenannte Schlaf- Paralyse- Halluzination. Darin geht es um das Phänomen der Schlaflähmung oder Kataplexie. Die dient dazu, daß ein Großteil der Muskulatur während des Schlafs außer Funktion gesetzt wird, damit man geträumte Handlungen nicht tatsächlich ausführt. Daß sie nicht gleich mit dem Einnicken einsetzt, merkt man an den sogenannten Einschlafmyoklonien, bei denen geträumte Bewegungen reale Zuckungen zur Folge haben, die einen wieder aufwecken können. Aber auch mit dem Erwachen endet sie nicht automatisch; das läßt sich daran erkennen, daß die ersten Schritte nach dem Aufstehen noch ungelenk und schlurfend sein können.
Ungefähr sechs Prozent aller Menschen leiden an einer Störung der Kataplexie: Sie schlagen die Augen auf, können sich aber für eine Weile immer noch nicht rühren. Dies kann sich äußern als Druckgefühl auf Brust, Armen und Beinen. Jeder vergebliche Versuch, gegen die Steifheit des Leibes anzukämpfen, verstärkt das Gefühl der Angst und Ohnmacht noch.
Aber es ist nicht nur die Kataplexie allein: Auch der Mechanismus, Sinneseindrücke in Träume zu übersetzen, geht noch eine Weile weiter. Es kann sein, daß ein bereits geträumter Traum fortgeführt wird, aber auch, daß die Psyche auf die Starre reagiert und einen neuen erschafft. Die Folge sind ausgesprochen real wirkende Halluzinationen inmitten der Wirklichkeit. Sehr häufig verspürt man auch die Präsenz eines gruseligen Wesens, dem man schutz- und wehrlos ausgeliefert ist – In der Regel dann eines, das auf oder in einem hockt.
Solche Trugwahrnehmungen nennt man hypnagog (Es gibt noch eine Unterteilung in hypnagog, hypnopomp und hypnomesisch, je nachdem, ob das Phänomen unmittelbar vor dem Einnicken auftritt, direkt nach dem Erwachen, oder zwischen zwei Schlafphasen. Die erstgenannte Vokabel jedoch wird außerdem als Oberbegriff verwendet). Hypnagoge Zustände können sich auch schon bei absoluter Müdigkeit einstellen, und einem sehr intensiv, ja, realer als die Wirklichkeit drum herum vorkommen. Man kann mit ihnen interagieren, aber anders als in den klassischen Nachtgesichten erlebt man sie als Betrachter, nicht als in die Handlung eingebundene Person. Sie können bis zu einer Viertelstunde andauern, werden aber meist nur mit den Augen wahrgenommen (in seltenen Fällen werden sie gehört oder gefühlt). Die Bandbreite reicht von einfachen Punkten oder Mustern über menschliche Gestalten bis hin zu komplexen Bewegungsabläufen und ganzen Landschaften.