Lynch, Scott – The Lies Of Locke Lamora

Cover THE LIES OF LOCKE LAMORAThe Lies Of Locke Lamora
von Scott Lynch
2007
ISBN: 055358894X
kartoniert
, 722 Seiten, ca. 5 - 7 Euro
Spectra Books

Ankh-Morpork meets Tarantino
Immer, wenn man meint, man würde so ziemlich jede Spielrichtung der Fantasy kennen, dann kommen sie aus ihren Löchern, Autoren, die einem diese Meinung mit gezielten Buchstabensalven zunichte machen. Der erste Lichtblick in dieser Hinsicht waren die ersten beiden Romanes von Greg Keyes, aus der „Age Of Unreason“ Quadrologie, nach denen ich schon der Ansicht war, das war's für dieses Jahr, was Besseres gibts nicht mehr zu lesen. Und dann kommt Scott Lynch daher und bewirft mich mit einem umfangreichen Wälzer, der die Abenteuer eines Diebs und Trickbetrügers enthält – Locke Lamora. Fantasy lesen macht nach langen Jahren Einheitsbrei wieder Spaß!

Stellt euch eine Stadt vor, die eine Mischung zwischen Ankh Morpork, Venedig und New York zu sein scheint. Vielleicht noch mit einem Spritzer Lankhmar. Unübersichtlich und verwinkelt wie die Scheibenwelt-Metropole, von Kanälen durchzogen wie die Lagunenstadt und voller Verbrechen und Gangs wie Manhattan zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erbaut aus einer Art Glas, zurückgelassen von einer älteren, untergegangenen Rasse, haben die Menschen sie übernommen und sich in ihr häuslich eingerichtet.
Eighty-eight thousand souls generated a certain steady volume of waste; this waste included a constant trickle of lost, useless and abandoned children. ... Slavers got some, and plain stupidity took a few more. Starvation and the diseases it brought were also common ways to go for those that lacked the courage or the skill to pluck a living from the city around them. ... Any orphans left were swept up by the Thiefmaker's crew. (Seite 3)

Locke Lamora und seine Gang nennen sich die »Gentlemen Bastards«. Im Gegensatz zu den anderen Verbrechern Camorrs verstehen sie sich auf Lebensart und haben den Trickbetrug in zahllosen Masken zur Perfektion gebracht. Sie bringen die Adligen der Stadt auf eine Art um ihre Besitztümer, die es den Beklauten verbietet darüber zu berichten, denn damit gäben sie sich selbst der Lächerlichkeit preis.

Das Leben der kleinen und grossen Verbrecher in Camorr ist geregelt, denn über alles wacht Capa Barsavi, eine Art Mafiaoberhaupt, dem alle unterstehen und vor dem alle kuschen. Es gibt ein Abkommen: Man läßt die Adligen in Ruhe und dafür ignorieren diese die Diebesgemeinschaft bei ihren Raubzügen und Gaunereien.

Was fällt uns auf? Genau, Locke Lamora und seine Bastarde halten sich nicht daran und kommen damit seit Jahren durch, sie betrügen also alle Seiten.

Doch eines Tages stürzt das mühsam über Jahre aufgebaute Kartenhaus ein, als ein Gegner auftaucht, der sich mit allen maßgeblichen Parteien auf brutale Art anlegt.

Brutal ist ein gutes Stichwort: The Lies Of Locke Lamora ist definitiv kein Buch für Zartbesaitete, denn es geht gehörig zur Sache und es wird bunt gestorben (ein Ausdruck, der sich prägte, als ich mir mit Freunden vor Jahren Splatterfilme ansah). Auch werden Folterungen detailliert beschrieben, was ebenfalls nicht jedermanns Sache sein dürfte. Die Sprache sämtlicher handelnden Figuren ist sehr deutlich, »fuck« und Abkömmlinge kommen regelmäßig vor, auch mit »piss«,
»shit« oder einem gelegentlichen »cocksucker« wird nicht gespart.

Normalerweise stehe ich nicht auf ein derart offensichtliches Angebot von Gewalt, aber eigentümlicher Weise funktioniert das in diesem Roman sehr gut. Die Protagonisten wachsen einem ans Herz und das trotz der Tatsache, dass auch sie eigentlich ziemliche Sackgesichter sind (wie so ziemlich jeder in Camorr). Wobei sich das schnell relativiert, denn im Gegensatz zu anderen Handlungsträgern sind sie die reinsten Waisenknaben (na gut, das sind sie wirklich), was Gewaltausübung angeht.
Die Mischung funktioniert wahrscheinlich hauptsächlich deswegen, weil Lynch hier ein ungeheuer dichtes Gewebe gesponnen hat, einen Fantasy-Teppich knüpft der seinesgleichen sucht; derart vertraut kommen einem Stadt und Bewohner ob seiner detaillierten Beobachtung am Ende der Lektüre vor, dass man fast meint sie schon immer zu kennen. Die Beschreibungen des Autoren sind punktgenau und dennoch sehr mystisch fantastisch und obwohl Camorr in keinster Weise den typischen Fantasy-Stadt-Klischees entspricht, sondern deutlich moderner wirkt, kommt definitiv ein »sense of wonder« auf, der durch die vielen kleinen und kleinsten Details erzeugt wird, mit denen Lynch den Leser immer wieder konfrontiert.

In the House of Glass Roses, there was a hungry garden. The place was Camorr in microcosm; a thing of the Eldren left behind for men to puzzle over, a dangerous treasure discarded like a toy. ... Here was an entire rose garden, wall after wall of perfect petals and stems and thorns, silent and scentless and alive with reflected fire, for it was all carved from Elderglass, a hundred thousand blossoms perfect down to the tiniest thorn. ... And it was flawless, as flawless as the rumours claimed, as though the Eldren had frozen every blossom and every bush in an instant of summer's fullest perfection. (Seite 259)

Die eigentliche Handlung wird regelmäßig unterbrochen durch Einschübe, die die Kindheit und Jugend der Gentlemen Bastards für den Leser beleuchten, erläutern, wie es zur aktuellen Konstellation kam. Was andere Autoren grundlegend verpatzen, funktioniert in The Lies Of Locke Lamora erstklassig und wird von Lynch selbstverständlich auch als Stilmittel eingesetzt, um die Spannung an verschiedenen Stellen zu steigern (Cliffhanger).

Der Leser sollte sich in diesem Fantasy-Thriller nicht an handelnde Personen gewöhnen, denn es wird nicht nur bunt, sondern auch reichlich gestorben in Camorr und der Autor lässt dabei auch Protagonisten nicht aus. Mehr schreibe ich aber an dieser Stelle nicht dazu...

Wer auf Fantasy und knallharte Tarantino-Thriller steht, der wird der Roman lieben. Zarter besaiteten Gemütern würde ich von der Lektüre abraten. Mich wundert, wie ein Buch mit derartig vielen eindeutigen Flüchen, „Fucks“ und Beschreibungen die unter die Gürtellinie zielen, in Amerika verlegt werden konnte. Wahrscheinlich wird von den Kanzeln gegen Locke Lamora – oder eher Scott Lynch -  gewettert.
Wer sich an der Gewalt und den Obszönitäten nicht stört, wird mit einem grossartigen und innovativen Fantasyroman belohnt, der sich sehr wohltuend vom Mainstream abhebt. Für Letztere die in Personalunion auch noch Fans von Tarantino und Woo sind spreche ich eine unbedingte Leserempfehlung aus. Der Rest sollte tolerant sein und bekommt dafür ein einmaliges Leseerlebnis (das aber sicher nicht jedem gefallen wird). Eingängig geschrieben ist der Roman allemal. Wer auf sterile oder plüschige Fantasy steht, sollte die Finger weit weg lassen und lieber einen Shannara oder Hohlbein lesen...

"I only steal because my dear old family needs the money to live!"
Locke Lamora made this proclamation with his wine glass held high; he and the other Gentleman Bastards were seated at the old witchwood table. . . . The others began to jeer.
"Liar!" they chorused
"I only steal because this wicked world won't let me work an honest trade!" Calo cried, hoisting his own glass.
"LIAR!"
"I only steal," said Jean, "because I've temporarily fallen in with bad company."
"LIAR!"
At last the ritual came to Bug; the boy raised his glass a bit shakily and yelled, "I only steal because it's heaps of fucking fun!"
"BASTARD!"
(Seite 107)

Und was mich freut: Band zwei muß ganz anders werden, denn Scott Lynch hat nachhaltig dafür gesorgt, dass das bisherige Setting im zweiten Teil keine Verwendung finden kann.

p.s.: Vielen Dank an Jochen Adam für den Tip! Brilliant! Wurde die "blumige Sprache" eins zu eins ins Deutsche übertragen?

Kommentare  

#1 Gabriel Adams 2008-07-20 13:27
Ob es die Übertragung eins zu eins abgelaufen ist, kann ich nicht sagen, reichlich und äußerst originell geflucht wurde allerdings schon. Normalerweise bin ich kein Fan einer derart "blumigen" Ausdrucksweise in Fantasyromanen (bei Thrillern ist das was anderes :lol: ), aber in diesem Fall hat die Sprache einfach perfekt zum Buch gepasst.
Klasse Rezi übrigens, der ich voll und ganz zustimmen kann!!!

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