Lynch, Scott: Sturm über roten Wassern
Sturm
über roten Wassern
(Red Seas Under Red Skies The Gentlemen-Bastard-Sequence 2)
von Scott Lynch
aus dem Amerikanischen von Ingrid
Herrmann-Nytko
Heyne Broschur
erschienen: Sommer 2008 (Deutschland), 2007 (USA)
944 Seiten, 16.00
ISBN: 978-3-453-53113-0
Random House (Heyne Verlag)
Wenn es in der Literatur
ein Genre gibt, das ich allen anderen bevorzuge, dann ist es das der Fantasy.
Kein anderes Genre fasziniert mich so sehr immer wieder aufs Neue, und ich
kenne keinen anderen Bereich, der so viele einzigartige Schriftsteller und
meisterhafte Romane hervorgebracht hat wie dieser.
Doch eine Zeit lang war
meine Begeisterung für die Fantasy deutlich abgekühlt. Nach vielen sehr guten
Romanen habe ich neues Lesefutter gesucht, doch obwohl ich wirklich eine Menge Bücher
gelesen habe, wurde ich ein ums andere Mal enttäuscht. Wie es aussah, hatte ich
ein für alle Mal die Nase voll vom Fantasygenre.
Das war vor knapp zwei
Jahren. Statt weiter verzweifelt nach Fantasyromanen zu suchen, die mir
gefallen könnten, habe ich mich verstärkt anderen Genres zugewandt.
Fantastische Literatur wurde weitestgehend ignoriert. Vor etwa einem Jahr
änderte sich das allerdings, denn da fiel mir eine Ausgabe von Scott Lynchs Die
Lügen des Locke Lamora in die Hände.
Das Buch war eine Offenbarung. Nicht genug damit, dass es ein erstklassiger Roman ist; meiner Meinung nach war es das wohl beste Fantasywerk, das ich je in meinem Leben gelesen habe. Ich war so begeistert, dass ich auf Seite 50 hätte weinen können, weil das Buch nur etwa 800 Seiten hatte.
Um es kurz zu machen: Locke Lamora hat mich wieder zur Fantasy zurückgebracht. Ohne dieses Buch wären mir viele äußerst gute Romane entgangen. Doch, bei aller Liebe zu so manchem Werk, das ich im letzten Jahr gelesen habe: Mit Scott Lynchs Erstling konnte es keiner aufnehmen.
Nun ist es endlich so weit: Mit Sturm über roten Wassern ist der zweite Band der Gentlemen Bastard-Sequenz erschienen, ein Buch, dessen Veröffentlichung ich mit gemischten Gefühlen entgegengesehen habe. Einerseits habe ich mich natürlich gefreut, dass es einen zweiten Band um die sympathischen Charaktere aus Die Lügen des Locke Lamora gibt. Andererseits fürchtete ich, dass nach dem starken Auftakt zwangsläufig ein schwächerer Roman folgen würde.
Eines vorneweg: Meine Befürchtungen haben sich bei der begeisterten Lektüre in Rauch aufgelöst.
Das Buch
Nach den dramatischen Erlebnissen in Camorr und dem Tod ihrer drei Freunde und Komplizen sind die Gentlemendiebe Locke Lamora und Jean Tannen in die gewaltige Hafenstadt Tal Verrar gereist. Nachdem sie ihre Verzweiflung über den Verlust ihrer Freunde überwunden haben, schmieden sie aufs Neue Pläne und berieten sich auf ihren nächsten Coup vor. Ihr Ziel diesmal: das Vermögen des weltbekannten Spielcasinos von Tal Verrar. Eine Menge ausgefeilter Tricks sind notwendig, um die enormen Sicherheitsvorkehrungen zu überwinden, denn die Spieltische gelten als nicht manipulierbar.
Als wäre der geplante Raubzug nicht schon schwer genug, müssen sich die beiden Gauner noch mit anderen Problemen herumschlagen. Eine Reihe von Attentätern hat es auf sie abgesehen, die Gilde der Magier hegt immer noch einen Groll gegen Locke für das, was er einem der ihren angetan hat, und zu allem Überfluss geraten die Meisterdiebe auch noch ins Visier des militärischen Oberbefehlshabers der Stadt. Auf hinterlistige Art und Weise sichert sich dieser Mann die Unterstützung von Locke und Jean, und schon bald finden sich die beiden auf einem Piratenschiff wieder, dessen Kommando sie inne haben. Keine leichte Aufgabe für jemanden, der von Schiffen und Seefahrt absolut keine Ahnung hat...
Kritik
Sturm über roten Wassern ist ein absolutes Meisterwerk der Fantasyliteratur, anders kann man es gar nicht ausdrücken. Schon mit Die Lügen des Locke Lamora hat Scott Lynch bewiesen, dass er ein einzigartiges Talent zum Geschichten erzählen besitzt; mit dem Nachfolgeband beweist er, dass sein Erstling kein bloßer Zufallstreffer war. Lynchs Erzählstil ist meisterlich. Mühelos gelingt es ihm, eine farbenfrohe, lebendige Welt voll Abenteuer, Humor und Dramatik aufzubauen, die den Leser von der ersten Zeile an in ihren Bann schlägt und alles um sich herum vergessen lässt. Das erlebt man in diesem Maße leider viel zu selten.
Sturm über roten Wassern ist ein Buch, bei dem einfach alles stimmt. Die Handlung ist atemberaubend und verblüffend. Immer neue Wendungen und Komplikationen machen die Geschichte abenteuerlich und unvorhersehbar. Action und Dramatik, gewitzte Dialoge und spritzige Beschreibungen folgen Schlag auf Schlag und machen die Lektüre zum Erlebnis. Dazu tragen insbesondere auch viele kleine Szenen bei, die so gar nichts mit der Haupthandlung zu tun haben, wie diverse reichlich belanglose Gespräche zwischen Locke und Jean, die den Roman aber enorm bereichern und die Story umso überzeugender und erfrischender wirken lassen.
Die Charaktere des Buches, allen voran die beiden Helden Locke und Jean, sind detailliert ausgearbeitet und stecken voller Leben. Die Welt, in der die Handlung angesiedelt ist, ist voller Überraschungen; immer wieder führt Lynch seine Leser an neue, fantastische Orte, deren Exotik den Leser sofort gefangen nimmt und in denen es immer noch etwas zu entdecken gibt, egal, wie viel man schon von den einzelnen Plätzen weiß.
Die Sprache des Romans ist ebenso passend wie farbenfroh. Selten habe ich ein Fantasybuch gelesen, in dem so viel und so originell geflucht wird wie in Sturm über roten Wassern, und selten habe ich erlebt, dass eine derartige Sprache so gut in ein Buch passt wie in diesem Fall.
Ob Kraftausdrücke, gelackte Dialoge oder furiose Actioneinlagen, Lynch versteht es wie kein Zweiter, mit Worten umzugehen und sie zu einer einzigartigen Komposition zu verbinden; immer trifft er den richtigen Ton und erzeugt so eine dichte Atmosphäre, die dafür sorgt, dass einen der Roman nicht mehr loslässt.
Alles in allem steht der Roman seinem Vorgänger in nichts nach. Auch wenn man es kaum zu glauben vermag: Lynch schafft es problemlos, das enorm hohe Niveau des Auftaktbandes zu halten. Die Mischung aus altbekannter Grundthematik (ein genialer Raubzug, der eigentlich unmöglich erscheint) in Verbindung mit neuen, spannenden Elementen (Piraten, Spielcasinos,...) und dem lockeren, aber immer treffenden Erzählstil machen das Buch zu einem echten Highlight der Fantasyliteratur, das sich wirklich, aber auch wirklich niemand entgehen lassen sollte.
Bevor man Sturm über roten Wassern liest, empfiehlt es sich auf alle Fälle, Die Lügen des Locke Lamora zu lesen, da der zweite Band der Reihe recht unmittelbar an die Ereignisse aus Buch eins anschließt. Und auch wenn man es hier mit zwei doch recht dicken Werken zu tun hat, lohnt sich die Lektüre auf alle Fälle. Spätestens wenn man mal angefangen hat zu lesen, will man eigentlich eh nicht mehr, dass die Bücher überhaupt noch aufhören, und die mehr als 1600 Seiten vergehen wie im Fluge.
Ich erspare es mir an dieser Stelle, Scott Lynchs Romane mit den Büchern anderer Autoren zu vergleichen. Ich kenne einfach kein Werk, das mit den Locke-Lamora-Büchern zu vergleichen wäre. Die Romane der Reihe sind absolut einzigartig. Daher gibt es von meiner Seite auch keine spezifische Leseempfehlung. Nur soviel: Jeder, der auch nur ansatzweise vorhat, mal (wieder) ein Buch zu lesen, sollte sich dieses Meisterwerk der Fantasy besorgen. Unbedingt. Viel besser kann Unterhaltung nämlich nicht sein.
Kommentare
Ich kenne das mit den Fantasy-Romanen, hatte die Erfahrung allerdings schon vor Jahren. Irgendwie immer die gleiche Tolkien-Kopien-Soße oder niedergeschriebene Rollenspiel Abenteuer, auf jeden fall wenig frische Kreativität oder Neues. Alternativ Gigantserien mit 10+ Bänden, Seufz! Aus dem Grund habe ich auch immer viel SF gelesen, da ist die Bandbreite meiner Ansicht nach erheblich grösser.
Glücklicherweise gab es aber irgendwann einen Trendwechsel und Autoren haben sich wieder getraut, mal "was anderes" zu schreiben. Leider kommt vieles davon hier in Deutschland gar nicht an, da die Importe der etablierten deutschen Verlagshäuser doch eher konservativ in Richtung der Tolkien-Schiene gehen.
Wieviel Zeit hast du eigentlich? Und wo lässt du das alles? Dein Bücherregal muss ja aus allen Nähten platzen, wenn ich da nur an die ganzen Torn - Bücher denke
Ja, ja, ich glaube, man merkt mir meine Begeisterung für Scott Lynchs Werke an... Es mag natürlich sein, dass andere Leser das völlig anders sehen, aber Lynchs Gentlemen-Bastard-Sequence gehört wirklich zum Besten, was ich je gelesen habe (womit ich jetzt hoffentlich nicht allzu hohe Erwartungen wecke... )
@ Cartwing
Was die Zeit angeht: viel zu wenig! Du glaubst gar nicht, wie viele Bücher es gibt, die ich aufgrund Zeitmangels nicht lesen kann... Bei den Werken von Lynch war es einfach so, dass ich schlichtweg nicht mehr aufhören konnte zu lesen, was gar nicht gut ist, wenn man am nächsten Tag ausgeschlafen sein muss
Und was mein Bücherregal angeht: Wenn du wüsstest... Und nun auch noch jede Woche PR...
Man hat's halt nicht leicht als Fan spannender Unterhaltung.
Solche Reaktionen auf eine Rezi sind einfach die Besten...
Viel Spaß bei Band 2!