Vidocq
Paris 1830
Wie bereits gesagt, die Anfangssequenz lässt dem Zuschauer wenig Luft zum Atmen, in einer tour de force von düsteren Farben und stakkatoartigen Schnitten wird man durch die Pariser Katakomben der Glasbläser geschliffen, die der Protagonist (eben jener Privatermittler mit dem Namen Vidocq) durcheilt, offenbar jemanden verfolgend oder suchend. In einer Halle kommt es zur Konfrontation mit dem Gesuchten, einer Art Phantom in weitem Mantel, das sein Gesicht hinter einem Spiegel versteckt. Nach einigen Kampfszenen, die schlichtweg wunderbar gestaltet und choreographiert wurden, kommt Vidocq zu Tode...
Im restlichen Film versucht der junge Journalist Etienne - der Vidocqs Biographie schreiben wollte - herauszufinden, was in den letzten beiden Wochen geschah und welche Geschehnisse zum Tode des Detektivs geführt haben.
Ohne hier jetzt zu viel von der Handlung erzählen zu wollen, dreht sich der Film um Intrigen, Laster und Wahnsinn im Frankreich des Jahres 1830, einer ohnehin unruhigen Zeit, in welcher dann auch noch ein gesichtsloses Phantom sein Unwesen treibt und hochrangige Staatsbeamte auf merkwürdige und mysteriöse Art und Weise tötet. Handelt es sich um einen maskierten Rächer, oder um ein übernatürliches Phänomen, einen Rachegeist? All das findet der Zuschauer zusammen mit den Charakteren des Films mit der Zeit heraus.
Den Darstellern des Werks muss man schlichtweg grandiose Darstellungskunst attestieren, daran gibt es keinen Zweifel. Was hier für ein Panoptikum, für eine Variation an Typen aufgeboten wurde, das geht in dieser Massierung offenbar tatsächlich nur in einem französischen Streifen. Mal abgesehen von einem grandiosen Depardieu, dem man den Spaß an diesem Film und dem knorrigen Charakter des Vidocq deutlich anmerkt, sind es gerade die zahlreichen Nebendarsteller, die die bizarre Unwirklichkeit und Skurrilität des Streifens noch deutlich unterstützen.
Dennoch wurde neben der Charakterbesetzung aber eben auch sehr großes Augenmerk auf die visuelle Umsetzung und Ästhetik der Geschichte gelegt, die mit ihren düsteren Sepia- und Ockertönen, mit ihren bedrückenden Szenarien und eigenwilligen Kameraperspektiven eine Stimmung zaubert, der man sich nur schwer zu entziehen vermag. Nicht umsonst dauerte die Drehzeit drei Monate, die Nachbearbeitungszeit erstreckte sich jedoch auf über ein Jahr. Man verstehe mich nicht falsch, bis auf wenige Stellen wird man nicht mit der Nase auf die computergenerierten Effekte gestoßen, vielmehr werden sie meist höchst subtil als Stimmungsmacher eingesetzt. Wofür früher Verlauffilter Verwendung fanden, nutzt man heutzutage halt computergestützte Koloration. Unterstützt und verstärkt wird das Ganze noch durch den ein- aber nie aufdringlichen Soundtrack von Bruno Coulais.
Ich bin mir nicht sicher, ob Actionfreunde wirklich glücklich mit diesem Film werden, denn neben eigentlich eher wenigen (ungewöhnlich realisierten und allein deshalb bereits gelungenen) Actionszenen und ein paar stakkatoartig geschnittenen Schockersequenzen legt »Vidocq» auch überaus viel Wert auf Bildsprache, die Ansichten des Molochs Paris und seiner Bewohner im Jahr 1830 zeigt, und lässt sich erfreulich viel Zeit für Charakterinteraktion und Motivationssuche.
Das Erstlingswerk des Regisseurs Pitof, der bislang hauptsächlich als Visual Effects Director in Filmen wie »Alien - Resurrection« (1997) oder »The Messenger: The Story of Joan of Arc« (1999) in Erscheinung trat, hat es in vielerlei Hinsicht in sich und seine Umsetzung des Stoffes, der übrigens bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts verfilmt wurde (allerdings hat diese Fassung damit kaum noch etwas gemein), hat sicherlich dafür gesorgt, dass ihm nach Vidocq die Realisierung von »Catwoman« angedient wurde. Na gut, was daraus wurde, wissen wir, breiten wir das Mäntelchen des Schweigens darüber... Aber Pitof wird in »Empires Of The Deep« (geplanter Kinostart 2010) zum Genre zurückkehren, hier spielt Monica Bellucci die Königin der Meerjungfrauen, vielleicht darf er da ja wieder, wie er möchte.
Abschließend möchte ich diesen Kostümgrusler mit kleinen Splatter-Anleihen jedem Genre-Fan ganz besonders ans Herz legen, auch wenn sich die Story gegen Ende etwas schnell und eigenartig löst und Nörgler sicherlich ein paar logische Fehler entdecken werden, aber das tut dem Gesamtkunstwerk keinerlei Abbruch. Überaus schade, dass dieses Meisterwerk hier nie in den Kinos zu sehen war (es erschien in Deutschland ausschließlich als Videopremiere auf Band und DVD), denn der brachiale Eindruck auf einer grossen Filmleinwand muss gewaltig sein. Wenn das die Art und Weise ist, wie Frankreich jetzt Filme dreht, dann sollte Hollywood sich warm anziehen (dieser Artikel wurde in seiner Ursprungsfassung 2004 geschrieben und für den Zauberspiegel überarbeitet, Anm. des Verfassers).
Fazit: Vidocq hebt sich wohltuend vom amerikanisch dominierten Horror- und Grusel-Einerlei ab, sei es nun Mainstream oder Independent. Absolut sehenswert!
Trailer (leider ist die Qualität eher schlecht, man kann im Web aber bessere finden.):
Nachwort: Wie ich bereits kurz anmerkte, schrieb ich diese Rezension im Jahr 2004, als der Film auf Video und DVD viel zu spät in Deutschland erschien. Heute vier Jahre später kann man ihn natürlich für recht kleines Geld käuflich erwerben, Amazon beispielsweise sagt nur 6,95 Euro dafür an. Und das ist er für den Genre-Freund allemal wert, wenig Geld für einen gleichsam anspruchsvollen und unterhaltsamen Film.
Kommentare
ZUSTIMMUNG IN ALLEN PUNKTEN.
Naja, fast. Hollywood musste sich leider nicht warm
anziehen. Aber als dann PAKT DER WÖLFE kam, war
ich mir sicher ein Umbruch, zumindest im europäischen
Kino würde stattfinden.
Wieder nichts. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.
PURPURNEN FLÜSSE hab ich total vergessen.
Großer Fehler. Wahnsinnig guter Film, zumindest der Erste.
Die Schuld ist eindeutig beim Zuschauer zu suchen.
Das europäische Publikum ordnet sich vollkommen
der Werbung unter und gibt seine Selbstbestimmung
ungefragt auf.
Genannte Film sind durchaus in die sogenannte Mainstream
Kategorie einzuordnen. Aber anstatt sich auf einen
'anspruchsvolleren' Film einzulassen, konsumiert man
Mangelware. Die Beschwerden sind hinterher immer
groß, die Konsequenzen aber gering. Beim nächsten
Kinostart geht alles von vorne los.
Schau doch mal den UNGLAUBLICHEN HULK: Da wird
unverfroren der selbe Scheißdreck dem selben Publikum
noch einmal untergejubelt. Und dann wundert sich dieser
mündige Zuschauer, warum dieser zweite Aufguss
auch nich' so dolle war.